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Schmutzengel

Titel: Schmutzengel
Autoren: dtv
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erste Grünzeug-Verantwortliche, die die teuren botanischen Lieblinge des Chefs nicht innerhalb von
     drei Monaten in den welken Tod trieb, und so blieb der Job an mir hängen. Ich wusste genau, welches Gewächs viel und welches
     wenig Wasser brauchte, ob das Wasser warm oder kalt, mineralienreich oder regenweichsein musste und wie oft am Tag, in der Woche oder im Monat überhaupt Flüssigkeit verabreicht wurde. Ich verfügte über ein
     eigenes Budget, aus dem ich die nicht unerheblichen Wasserkosten bestritt. Mineralwasser für die Kalkbodenspezialisten, saures,
     basisches oder Meerwasser für Moorpflanzen, neuseeländische Vulkanseeflechten oder nordeuropäische Salzwiesengräser. Mein
     grüner Daumen sicherte mir eine lobende Erwähnung auf jeder Weihnachtsfeier und eine lebenslange Anstellung in einer der angesagtesten,
     hippsten und kreativsten Agenturen der Stadt.
    Dachte ich.
    Bis zu eben jenem sonnigen Tag, an dem die warmen Luftmassen nicht nur die erwähnte Blüte mit sich brachten, sondern auch
     eine Überraschung für mich:
    Meine Kündigung.
     
    Dass es Zeiten gab, in denen es der I T-Branche schlecht ging und sie riesige Populationen an kommunikationsgestörten Binärcodeschreibern und Flash-Banner-Programmierern
     aus der Gruppe der Aktienblasenmillionäre zurück in die Spülküchen der Erfolgstraumwelten schickte, ist hinlänglich bekannt.
     Dass es in der Werbebranche eine ähnliche Welle gab, blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Eine der Ersten, die von
     dieser Welle aus den kreativen Räumen der mehrfach ausgezeichneten Agentur AIQ gespült wurden, war ich.
    Jörgen Haukwit empfing mich ganz in Violett. Jörgen Haukwit ist Gründer und Chef von AIQ.   Hinter seinem Rücken wird spekuliert, ob sein Vorname Ausdruck eines überzogenen Individualitätsbedürfnisses seiner Eltern
     oder schlicht das Resultat eines Tippfehlers des diensthabenden Standesbeamten bei der Anmeldung des neuen Erdenbürgers ist.
     Besonders böse Zungen behaupten, Jörgens Vatersei durch übermäßigen Alkoholgenuss vielleicht nicht in der Lage gewesen, den Namen seines Sohnes angemessen zu artikulieren.
     Jörgen jedenfalls hat sich so sehr mit diesem Namen identifiziert, dass er sich weigert, Post entgegenzunehmen, die an Jürgen
     Haukwit adressiert ist.
    Jörgen rasiert sich dreimal am Tag den Schädel, weil Glatze einfach cooler ist. Er ist ohne Sehhilfe blind wie ein bestochener
     Zöllner, verträgt aber keine Kontaktlinsen. Also hat er das Brille-Tragen zum modischen Statement erhoben, damit niemand auf
     die Idee kommt, es handele sich um eine medizinische Notwendigkeit. Ich habe immer vermutet, dass er allein mindestens drei
     Optiker auf der Kö finanziert. Seine Brillen sind unzählbar, ich kann mich kaum erinnern, ihn zweimal mit demselben Gestell,
     Pardon, derselben Fassung auf der Nase gesehen zu haben. Nun könnte man meinen, dass bereits die Wahl der Brille Jörgens Tagesform
     ausreichend darstellte, sodass er sich ansonsten den modisch offenbar zwingenden Vorgaben der Branchengrößen unterwerfen konnte,
     die grundsätzlich Kleidung in existenzialistischem Schwarz meinten. Doch weit gefehlt. Jörgen kleidete sich zwar stets von
     Kopf bis Fuß in nur eine einzige Farbe, insofern zeigte er eine gewisse Konformität mit dem Dresscode der Werbewelt. Nur ist
     diese Farbe eben nicht immer Schwarz. Sie variiert je nach Stimmung, und am Tag meiner Kündigung trug er Violett. Die Farbe
     tiefster Verzweiflung.
    Nun könnte man meinen, die Farbe hätte mich warnen sollen, aber die Häufigkeit, mit der Jörgen in Verzweiflungsviolett erschien,
     hatte uns abstumpfen lassen. Zumal kleinste Anlässe bei ihm zu tiefster Verzweiflung führten. Beispielsweise ein Pickel auf
     der Nase. Oder die Tatsache, dass er seine Mutter telefonisch nicht erreichte, ein unfreundlicher Nachbar, ein schlechter
     Traum oder ein Hautfetzchen am Fingernagelbett. Ich dachte mir also nichts dabei.
    Erst in dem Moment, in dem er mich mit beiden Armen fest an sich drückte, schrillten alle Alarmglocken in meinem Kopf los.
     Jörgen hasst Körperkontakt.
    »Däumling, Darling, es tut mir soooooo leid, du kannst es dir gar nicht vorstellen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«
    Mit diesen Worten ließ er mich genau so abrupt, wie er mich umarmt hatte, wieder los. Ich stand immer noch so da, wie vor
     und während der unerwarteten Umarmung: mit locker am Körper herunterhängenden Armen, leicht eingezogenem Kopf
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