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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen
Autoren: John Verdon
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Ergreifend, ironisch, schwungvoll. Wie ein trauriger Zirkus. Die langsam tanzende Sonya Reynolds. Fallende Herbstblätter.
    Stimmen.
    »Kann er uns hören?«
    »Möglicherweise. Die Gehirnaufnahmen von gestern zeigen deutliche Aktivität in allen sensorischen Zentren.«
    »Deutlich, aber …«
    »Die Muster sind immer noch erratisch.«
    »Das heißt?«
    »Sein Gehirn lässt Anzeichen einer normalen Funktion erkennen, aber das kommt und geht, und es gibt auch Anzeichen für sensorische Schwankungen, vielleicht nur vorübergehend. So ähnlich wie bei halluzinogenen Drogen, wo man Geräusche sieht und Farben hört.«
    »Und Ihre Prognose dazu?«
    »Mrs Gurney, bei traumatischen Hirnverletzungen …«
    »Ich weiß, dass Sie es nicht sicher sagen können. Aber was meinen Sie?«
    »Es würde mich nicht überraschen, wenn er sich vollständig erholt. Ich hatte schon Fälle, wo die Symptome plötzlich spontan …«
    »Aber es würde Sie auch nicht überraschen, wenn er sich nicht erholt?«
    »Ihr Mann hat eine Schussverletzung am Kopf. Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.«
    »Ja, danke. Ich hab verstanden. Vielleicht erholt er sich. Vielleicht auch nicht. Und Sie können es nicht vorhersagen.«
    »Wir tun unser Möglichstes. Wenn die Hirnschwellung zurückgeht, können wir uns vielleicht ein besseres Bild machen.«
    »Sind Sie sicher, dass er keine Schmerzen hat?«
    »Er hat keine Schmerzen.«
    Himmel.
    Wärme und Kühle umspülen ihn wie das Vor und Zurück einer Welle oder ein wechselnder Sommerwind.
    Jetzt riecht die Kühle nach taufeuchtem Gras, und die Wärme trägt das feine Aroma von Tulpen in der Sonne heran.
    Die Kühle ist die Kühle seines Lakens, und die Wärme ist die Wärme von Frauenstimmen.
    Wärme und Kühle verbinden sich zum sanften Druck von Lippen auf seiner Stirn. Wunderbar sanft und süß.
    Gericht.
    Gerichtshof, New York County. Ein bedrückender Saal, trostlos, farblos. Der Richter eine Karikatur von Erschöpfung, Zynismus und Schwerhörigkeit.
    »Detective Gurney, die Anschuldigungen sind schwerwiegend. Bekennen Sie sich schuldig?«
    Er kann nicht reden, kann nicht reagieren, kann sich nicht einmal bewegen.
    »Ist der Angeklagte anwesend?«
    »Nein!«, ruft ein Chor von Stimmen.
    Eine Taube fliegt vom Boden auf und verschwindet in der rauchigen Luft.
    Er will sprechen, um zu beweisen, dass er da ist, aber es gelingt nicht, er bringt kein Wort heraus, kann keinen Finger rühren. Er strengt sich an, um wenigstens eine Silbe, einen erstickten Schrei hervorzuwürgen.
    Inzwischen steht der Saal in Flammen. Die Robe des Richters brennt. Ächzend verkündet er: »Der Angeklagte verbleibt auf unbestimmte Zeit an seinem jetzigen Ort, dessen Größe stetig schrumpfen wird, bis zu dem Zeitpunkt, da der Angeklagte stirbt oder wahnsinnig wird.«
    Hölle.
    Er steht in einem Zimmer ohne Fenster, einem engen Zimmer mit abgestandener Luft und einem ungemachten Bett. Er blickt zur einzigen Tür, doch diese führt zu einem Wandschrank, der nur eine Handbreit tief ist und von einer Betonwand abgeschlossen wird. Er bekommt kaum Luft. Er pocht an die Wände, doch das Pochen ist kein Pochen, sondern ein Blitz aus Feuer und Rauch. Dann bemerkt er neben dem Bett einen Schlitz in der Wand und in dem Schlitz ein Augenpaar, das ihn beobachtet.
    Auf einmal ist er in dem Hohlraum hinter der Wand, von dem aus ihn die Augen beobachtet haben, doch der Schlitz ist verschwunden, und es ist stockdunkel. Er versucht sich zu beruhigen. Langsam und gleichmäßig zu atmen. Sich zu bewegen. Aber der Hohlraum ist zu klein. Die Arme lassen sich nicht heben, die Knie nicht beugen. Und er stürzt zur Seite, knallt auf den Boden. Doch der Knall ist kein Knall, es ist ein Schrei. Der Arm unter dem Körper ist wie tot, er kann sich nicht hochstemmen. Hier unten ist es noch enger, nichts bewegt sich. Rasende Angst nimmt ihm den Atem. Wenn er nur einen Laut von sich geben, schreien, sprechen könnte.
    In der Ferne heulen die Kojoten.
    Leben.
    »Sind Sie sicher, dass er mich hören kann?« Ihre Stimme war die reine Hoffnung.
    »Auf jeden Fall stimmt das Muster auf der Kernspin-Aufnahme mit der Nervenaktivität beim Hören überein.« Eine Antwort so kühl wie ein Blatt Papier.
    »Ist es möglich, dass er gelähmt ist?« Ihre Stimme schwebte am Rand der Finsternis.
    »Soweit wir das erkennen können, wurde das motorische Zentrum nicht geschädigt. Allerdings kann man bei Verletzungen dieser Art …«
    »Ja, ich weiß.«
    »Gut, Mrs
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