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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen
Autoren: John Verdon
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leichenhafte Emil Lazarus zum Vorschein und kroch wie ein riesiger schwarzer Käfer über den rauchenden Boden.
    Giotto Skard beobachtete das Geschehen auf dem Monitor. Nicht emotionslos, sondern amüsiert.
    Auf mehr als diese kleine Ablenkung durfte Gurney nicht zählen. Es war seine letzte Chance.
    Niemand war schuld. Niemand konnte ihn retten. Er war aus freien Stücken an diesen Ort gekommen. Diesen gefährlichsten Ort seines Lebens. Diesen Ort am Abgrund zur Hölle.
    Himmelspforte.
    Es war die einzige Möglichkeit.
    Er hoffte, dass es reichte.
    Und wenn nicht, hoffte er, dass ihm Madeleine eines Tages verzeihen konnte.

79
Die letzte Kugel
    An der Polizeiakademie wurde kein Kurs gegeben, der angemessen auf eine Schussverletzung vorbereitete. Die Beschreibungen derer, die so etwas erlebt hatten, vermittelten eine gewisse Vorstellung, und wenn man Zeuge wurde, wie jemand angeschossen wurde, fügte das noch eine zusätzliche bestürzende Dimension hinzu; doch wie bei den meisten intensiven Erfahrungen existierten Vorstellung und Realität in zwei ganz verschiedenen Welten.
    Sein in ein, zwei Sekunden gefasster Plan war an Schlichtheit nicht zu überbieten – wie ein Sprung aus dem Fenster. Er hatte vor, sich direkt auf den Alten zu stürzen, der dreieinhalb oder vier Meter entfernt knapp vor der offenen Tür stand. Er hoffte, so heftig auf ihn zu prallen, dass er ihn nach hinten durch die Tür und nach dem schmalen Absatz die Steintreppe hinunterreißen konnte. Das Ganze um den Preis, angeschossen zu werden, wahrscheinlich sogar mehrfach.
    Während Giotto Skard noch die kreischende Blondine anstarrte, warf sich Gurney mit einem kehligen Brüllen nach vorn, einen Arm schützend vor dem Herzen, den anderen vor der Stirn. Abgesehen von diesen zwei Stellen besaß Skards kleinkalibrige Pistole sicher keine große Mannstoppwirkung, und Gurney hatte sich damit abgefunden, dass es ihn sowieso irgendwo treffen würde.
    Unmittelbar darauf hallte der erste Schuss mit ohrenbetäubendem Krach durchs Zimmer. Mit schockierender Kraft zerschmetterte die Kugel Gurneys rechtes Handgelenk und drückte es auf der Herzseite gegen das Brustbein.
    Die zweite Kugel bohrte sich wie ein Feuernagel in seinen Bauch.
    Die letzte war die schlimme.
    Weder hier noch dort.
    Eine elektrische Explosion. Ein blendend grüner Funke, ein zerberstender Stern. Schreie. Schreie der Angst, des Schreckens. Schreie voller Wut. Das Licht ist der Schrei, der Schrei ist das Licht.
    Nichts. Und etwas. Zuerst sind beide schwer zu unterscheiden.
    Eine weiße Fläche. Vielleicht nichts. Vielleicht eine Zimmerdecke.
    Irgendwo unter der weißen Fläche, irgendwo über ihm ein schwarzer Haken. Ein kleiner schwarzer Haken, ausgestreckt wie ein winkender Finger. Eine Geste von großer Bedeutung. Zu groß für Worte. Alles ist zu groß für Worte. Ihm fallen keine Worte ein. Nicht ein einziges. Er hat vergessen, was das ist. Worte. Kleine, furchige Gegenstände. Schwarze Plastikinsekten. Entwürfe. Stücke. Buchstabensuppe.
    An dem Haken hängt ein farbloser, durchsichtiger Beutel. Prall gefüllt mit einer farblosen, durchsichtigen Flüssigkeit. Von dem Beutel führt ein durchsichtiger Schlauch zu ihm. Wie der Benzinschlauch an einem Modellflugzeug im Park. Er kann den Treibstoff riechen. Beobachtet, wie ein Zeigefinger mit einem geübten Ruck am Propeller den kleinen Motor anwirft. Das Geräusch wird lauter und höher, der Motor heult, das Heulen schwillt zu einem konstanten Kreischen an. Auf dem Nachhauseweg rutscht er hinter seinem Vater, seinem schweigsamen Vater, auf den Steinen aus. Schlägt sich das Knie blutig. Das Blut läuft über das Schienbein hinunter zur Socke. Er weint nicht. Sein Vater ist glücklich, ist stolz auf ihn, erzählt seiner Mutter später von seiner großen Leistung, dass er ein Alter erreicht hat, in dem er nicht mehr weinen muss. Es kommt selten vor, dass ihn sein Vater voller Stolz anschaut. Seine Mutter sagt: »Um Himmels willen, er ist doch erst vier, da darf er doch noch weinen.« Sein Vater schweigt.
    Er sitzt am Steuer seines Autos. Eine vertraute Gegend in den Catskills. Vor ihm überquert ein Reh die Straße und springt ins Feld gegenüber. Und dann folgt völlig unvermutet das Kitz. Ein Poltern. Das Bild des verdrehten Körpers, das zurückblickende Muttertier im Feld.
    Danny im Rinnstein, der davonjagende rote BMW . Die auffliegende Taube, der er auf die Straße gefolgt ist. Er war doch erst vier.
    Musik von Nino Rota.
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