Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft
Autoren: Katharina Born
Vom Netzwerk:
er zu erzählen.
    Getauft sei er auf den Namen Heinrich Vahlen, sagte Kind, aber schon in seinem Heimatort habe man ihn Hagis Kind genannt. Für ihn hatte es wie ein Kosename geklungen, als wäre er früher hager gewesen, ein schwächliches Kind.
    Â»Bis ich eines Tages gewagt habe, meine Tante Martha zu küssen.« Sein Lächeln bekam etwas Gezwungenes. »Wir haben uns geschämt. Wir waren wie Bruder und Schwester aufgewachsen.«
    Amy hatte vorsichtig genickt.
    Kind erzählte, dass seine Tante ihn weggeschickt hatte. Erst auf die höhere Schule, dann nach Karlsruhe und schließlich nach England. Damals dachte er, sie wollte ihn loswerden.
    Â»Ein anderes Mädchen aus dem Dorf hat mir schließlich gesagt, wer ich bin«, sprach er weiter. »Dafür habe ich sie sofort geheiratet.« Er zwinkerte Amy zu, ohne wirklich zu lachen.
    Von seiner späteren Frau erfuhr er, dass er während des Krieges von seinen Eltern verschickt und dabei verloren gegangen war. Eigentlich hätte er in ein Waisenhaus kommen sollen. Aber Marthasechter Neffe Heinrich starb bei einem Feuer und die Familie behielt Kind an seiner Stelle bei sich.
    Â»Meine Eltern suchen mich womöglich heute noch«, sagte Kind. »Wahrscheinlicher ist, dass sie nicht mehr leben. Niemand hat mich nach dem Krieg vermisst. Man nannte mich Hagis Kind, denn so stand es auf dem Verschickungsschein, aber auch das war wahrscheinlich nur ein Fehler.«
    Amy bemerkte einen Schmerz in Kinds Stimme, wie ein leises Pfeifen.
    Â»Zumindest fühle ich mich nicht mehr allein auf der Welt, seit ich weiß, dass es noch einen anderen Heinrich Vahlen gegeben hat«, sagte Kind und zwinkerte diesmal fröhlicher. »Ich frage mich, ob Heinrich mir böse ist, dass er in Sehlscheid unter meinem falschen Namen begraben liegt. Oder ob er sich darüber freut, dass ich sein Leben lebe.«
    Amy war erleichtert gewesen, dass Kind wieder Witze machte.
    Sie sagte sich, dass er unter den vielen Einwanderern in Chicago mit seiner merkwürdigen Geschichte kaum auffiel. Alle hatten sie auf die eine oder andere Weise etwas hinter sich gelassen, eine Familie, ein Glück, eine Zukunft verloren. Das Besondere war nur, dachte Amy, dass Kind schon lange vor dem Krieg anders gewesen war. Er war selbst verloren gegangen, ein echtes Findelkind wie aus den Geschichten ihrer Großmutter.
    Â»Was wird Ihre Tante Martha jetzt tun, wo der Krieg vorbei ist?«, fragte Amy, als Kind sich wieder seiner Zeichnung zuwenden wollte.
    Â»Ich habe lange nichts von ihr gehört«, sagte er, und obwohl es klang als überraschte ihn die Frage, schien er bereitwillig weiterzusprechen. »Das letzte, was ich von ihr weiß ist, dass sie in Köln ausgebombt wurde. Tagelang musste sie mit den Kindern zwischen den Ruinen herumirren, bevor sie die Stadt verlassen konnte. Eine Weile kam sie in einem Invalidenheim unter, wo sie als Köchin arbeitete. Dann ging sie zurück. Es geht ihr soweit gut, denke ich. Amerikanische Zone.« Kind lachte auf. »Nur Schuhe findet man nach wie vor in ganz Köln nicht. Nicht einmal für die Kinder.«
    Â»Was ist mit ihrem Mann?«
    Kind hatte zu einem Bleistift gegriffen und begonnen, kurze, gerade Striche über das Papier zu ziehen. »Den hat sie verlassen. Noch bevor die Bombenangriffe losgingen.«
    Â»Sie hat ihren Mann verlassen?«
    Kind sah kurz auf, wandte sich aber gleich wieder seinem Zeichentisch zu, als handele es sich lediglich um eine Feststellung.
    Â»Aber dann hätten Sie doch –« Amy unterbrach sich.
    Â»Solange es ging bin ich noch zu ihr gefahren«, sagte Kind. »Ich habe sie sogar auf Knien angefleht, mit mir fortzugehen.« Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und ließ wie nebenbei eine Hand über Amys Hüfte streichen.
    Â»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, sagte sie, ich solle sie in Frieden lassen. Sie habe einen Mann, der gut zu ihr sei. Ich dürfe meine Kinder und meine Frau nicht enttäuschen. Ich sagte, dass ich mich nicht scherte um diese Kinder. Rief, dass ich Ilse lieber enttäuschen würde, als sie weiter zu belügen.« Beinahe schrie Kind auch jetzt, und seine Hand fasste härter zu, so dass Amy erschrak. Er wirkte nun wieder ganz unnahbar.
    Â»Ich glaube, Martha war kurz davor, nachzugeben. Fast wäre sie mir nach England gefolgt. Doch in dem Moment kam das Hausmädchen herein. Sie fragte, ob alles in Ordnung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher