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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft
Autoren: Katharina Born
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Eber trieb, schien die Witwe nicht zu bemerken. Seiner Frau sagte er später, er habe hinter seinem Rücken noch lange das Schimpfen der Alten gehört. Und wie am nächsten Tag Annelies Gehrke der Nachbarin berichtete, war es ihrem Wilhelm dabei kalt den Rücken heruntergelaufen.
    Am nächsten Tag hatte Schnapp vergeblich auf seine Herrin gewartet. Mehr Menschen als gewöhnlich waren im Haus ein- und ausgegangen. Der Pfarrer war auf die Hüh gestiegen, der Arzt und auch Hermann Vahlen, der Enkel der Alten, der dem Hund im Heraustreten einen freundlichen Klaps gab. Die junge Brink brachte ein paar Meter Tuch vorbei, die ihr vom letzten Schlachtfest geblieben waren. Kläre, die Schwiegertochter der Toten, zog ihr dafür ein Kaninchen aus dem Verschlag. Und Hermann hatte im Hof ein paar lange Bretter zu einer Kiste zusammengezimmert.
    An diesem kalttrüben Morgen im September 1933 hoben Hermann und sein Sohn die knochige Alte, die sich, in das dürftige Tuch eingenäht, wie ein totes Kalb anfasste, vom Strohbett in die Kiste. Beim Ablegen entwich dem Körper ein letzter brodelnderAtemstoß. Alle Umstehenden, der in Wachstuch gehüllte Pfarrer, die Nachbarn und die Familie, hielten die Luft an, solange sie konnten. Nur Schnapp sog den strengen Geruch seiner toten Herrin ein.
    Der Sarg war zu groß geraten. Kläre Vahlen schimpfte. Man hatte ihn mit Stroh ausgelegt und doch schien beim Aufnehmen die Tote im Sarg hin- und her zu rollen. Die Männer spürten leichte Stöße, als hämmerte die Alte mit Fäusten gegen das Holz. Wie auf ein Zeichen hielten sie inne, doch außer dem auf die Kiste trommelnden Regen, dem Schlagen des Windes gegen das Gatter des Ziegenverschlags und dem Tosen der Pappeln am Fuß der Hüh war nichts zu hören.
    Die Männer tasteten sich, die Kiste auf den Schultern, hinter dem Pfarrer und seinem Messdiener den steilen Hügelpfad hinunter. Nach wenigen Metern fanden Hermanns Stiefel im Schlamm keinen Halt mehr. Als ihm dann noch der Hund vor die Füße sprang, ohne dass jemand die plötzliche Entschlossenheit des Tieres bemerkt hätte, ging auch der Förster in die Knie und der Sarg entglitt ihnen.
    Der Pfarrer trat erschrocken zur Seite. Kläre aber, Hermanns Frau Emmy, Martha, die allein aus Koblenz angereist war, Hagis Kind und alle anderen Dorfbewohner, die trotz des Regens auf die Hüh gekommen waren, betrachteten mit offenen Mündern das Unglück, das sich übertrieben langsam abzuspielen schien, als könnte man es jederzeit mit nur einem Wort aufhalten. Niemand sagte etwas.
    Alle Bewohner von Sehlscheid kannten die Geschichte der Frau, die da ihre letzte Ruhe finden sollte. Trotz ihres inzwischen ansehnlich gewordenen Hofes auf der Hüh und trotz ihrer Enkel und Urenkel, die es bis zur höheren Schule in Arlich geschafft hatten, galt Irma Vahlen in Sehlscheid als eine »gefallene Frau«. Und wie eine neue, gefährliche Form der Maßlosigkeit schienen sich ihr Leichtsinn, ihr früher Hang zu Unzufriedenheit und ihr überheblicher Stolz inzwischen auf das gesamte Dorf ausgebreitet zu haben.
    Der Sarg polterte auf dem matschigen Pfad abwärts, scherte ausnach rechts und prallte an einen Baumstumpf. Der Oberkörper der Toten zeigte sich über dem Rand der zerborstenen Kiste. Ihr nasses Haar klebte am Schädel. Die letzten Zähne der Witwe, ihr seit Jahren kaum mehr dienlich, ragten aus dem geöffneten Mund hervor. Und Irma Vahlens einst so blaue Augen waren unter den Lidern eingefallen wie dunkle Trichter.
    Â 
Der Doktorand und die Witwe (April 2007)
    Eine letzte Kurve des Kieswegs verlängerte den Weg des Doktoranden vom Wald herüber zum Wohnhaus. Er ging mit weiten Schritten, die Tasche trug er unter dem Arm, sein heller Mantel wehte in der aufkommenden Brise. Er hatte ihn erst heute Morgen in Koblenz für diesen überraschend milden Frühlingstag gekauft.
    Andreas Wieland nahm sich vor, seinen entschlossenen Gesichtsausdruck gleich in ein Lächeln zu verwandeln, sollte ihm jemand entgegenkommen. »Der Doktorand aus Duisburg«, wollte er dann sagen. »Ist Frau Vahlen zu sprechen?« Aber niemand bewachte das abgelegene Grundstück vor ungebetenen Gästen. Der kleine Parkplatz am Waldrand, wo er den Wagen abgestellt hatte, war leer gewesen. Aus den verwilderten Rosenbeeten schossen hohe Wassertriebe.
    Das Haus des Schriftstellers wirkte trotz der von Moos und
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