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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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Essen wünscht er sich, dass Black ausgehen möge, und er schöpft Hoffnung, als er eine plötzliche Unruhe in seinem Zimmer bemerkt. Aber es wird nichts daraus. Eine Viertelstunde später sitzt Black wieder an seinem Schreibtisch, und nun liest er ein Buch. Eine Lampe brennt neben ihm, und Blue erkennt sein Gesicht deutlicher als zuvor. Er schätzt, dass Black so alt ist wie er, auf ein oder zwei Jahre genau. Das heißt irgendwo in den späten Zwanzigern oder frühen Dreißigern. Er findet Blacks Gesicht recht angenehm, nichts unterscheidet es von tausend anderen Gesichtern, die man täglich sieht. Das ist eine Enttäuschung für Blue, denn er hofft insgeheim noch zu entdecken, dass Black ein Verrückter ist. Blue blickt durch den Feldstecher und entziffert den Titel des Buches, das Black liest. Walden von Henry David Thoreau. Blue hat noch nie davon gehört und schreibt es sorgfältig in sein Notizbuch.
    So geht es den Rest des Abends, Black liest, und Blue beobachtet ihn beim Lesen. Mit der Zeit fühlt sich Blue mehr und mehr entmutigt. Er ist ein solches Herumsitzen nicht gewohnt, und nun, da die Dunkelheit über ihn hereinbricht, fängt es an, ihm auf die Nerven zu gehen. Er ist gern auf den Beinen, will sich von einem Ort zum anderen bewegen, etwas tun. Ich bin nicht der Sherlock-Holmes-Typ, sagte er zu Brown, sooft ihm der Boss eine sitzende Beschäftigung auftrug. Gib mir etwas, woran ich mich festbeißen kann. Und nun bekommt er als sein eigener Boss einen Fall, bei dem es nichts zu tun gibt. Denn jemanden beim Lesen und Schreiben zu beobachten, heißt in Wirklichkeit nichts zu tun. Blue könnte nur ein Gefühl dafür bekommen, was geschieht, wenn er sich in Blacks Geist versetzte, um zu erkennen, was er denkt, und das ist natürlich unmöglich. Nach und nach lässt Blue daher seine eigenen Gedanken zu den alten Tagen zurückschweifen. Er denkt an Brown und einige Fälle, die sie zusammen bearbeiteten, und er genießt die Erinnerung an ihre Triumphe. Da war, zum Beispiel, die Redman-Affäre. Sie brachten den Bankkassierer zur Strecke, der eine Viertelmillion Dollar unterschlagen hatte. Blue gab sich damals als Buchmacher aus und verleitete Redman dazu, eine Wette bei ihm abzuschließen. Die Geldscheine wurden zu der Bank zurückverfolgt, der sie fehlten, und der Mann bekam, was ihm zustand. Noch besser war der Fall Gray. Gray wurde seit über einem Jahr vermisst, und seine Frau war schon bereit, ihn als tot aufzugeben. Blue suchte ihn mit allen üblichen Mitteln und Methoden und fand ihn nicht. Dann, eines Tages, als er schon seinen abschließenden Bericht abgeben wollte, stieß er in einer Bar auf Gray, keine zwei Häuserblocks von der Wohnung entfernt, in der seine Frau saß und davon überzeugt war, dass er nie zurückkommen würde. Grays Name war nun Green, aber Blue wusste trotzdem, dass er Gray war, denn er hatte in den vergangenen drei Monaten ein Foto des Mannes mit sich herumgetragen und kannte sein Gesicht auswendig. Es stellte sich heraus, dass Gray unter Gedächtnisschwund litt. Blue brachte ihn zu seiner Frau zurück, und obwohl er sich nicht an sie erinnerte und sich immer noch Green nannte, fand er Gefallen an ihr und machte ihr ein paar Tage später einen Heiratsantrag. Aus Mrs. Gray wurde Mrs. Green, und sie war mit demselben Mann zum zweiten Mal verheiratet, und auch wenn sich Gray nie an die Vergangenheit erinnerte – und sich hartnäckig weigerte zuzugeben, dass er etwas vergessen hatte –, so schien ihn das nicht davon abzuhalten, behaglich in der Gegenwart zu leben. Gray war in seinem früheren Leben Ingenieur gewesen; als Green arbeitete er nun als Barmixer in der zwei Häuserblocks entfernten Bar. Es gefiel ihm, die Drinks zu mixen und mit den Leuten zu reden, die hereinkamen, und er konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Ich bin der geborene Barmixer, erklärte er Brown und Blue bei der Hochzeitsparty, und wer waren sie, um daran Anstoß nehmen zu dürfen, was ein Mann mit seinem Leben anfing?
    Das waren die guten alten Zeiten, sagt sich Blue nun, während er zusieht, wie Black in seinem Zimmer auf der anderen Straßenseite das Licht ausschaltet. Voll seltsamer Wendungen und amüsanter Zufälle. Nun, nicht jeder Fall kann aufregend sein. Man muss das Schlechte mit dem Guten nehmen.
    Blue, immer optimistisch, wacht am nächsten Morgen in einer heiteren Stimmung auf. Draußen fällt Schnee auf die stille Straße, und alles ist weiß geworden. Er beobachtet, wie Black an
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