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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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dem Tisch vor dem Fenster frühstückt und noch ein paar Seiten Walden liest. Dann sieht er ihn in den hinteren Teil des Zimmers gehen und im Mantel zum Fenster zurückkehren. Es ist kurz nach acht Uhr. Blue nimmt Hut, Mantel, Schal und Stiefel, zieht sich hastig an und kommt weniger als eine Minute nach Black auf die Straße hinunter. Es ist ein Morgen ohne Wind, so still, dass Blue den Schnee auf die Äste der Bäume fallen hören kann. Niemand sonst ist unterwegs, und Blacks Schuhe haben makellose Spuren auf dem weißen Gehsteig hinterlassen. Blue folgt den Spuren um die Ecke, und dann sieht er Black die nächste Straße hinunterschlendern, so als genösse er das Wetter. Nicht das Verhalten eines Mannes, der flüchten will, denkt Blue, und verlangsamt daher seinen Schritt. Zwei Straßen weiter verschwindet Black in einem kleinen Lebensmittelgeschäft, bleibt zehn oder zwölf Minuten und kommt dann mit zwei sehr vollen braunen Tüten heraus. Ohne Blue zu bemerken, der auf der anderen Straßenseite in einem Hauseingang steht, geht er wieder Richtung Orange Street zurück. Er legt Vorräte für den Sturm an, sagt sich Blue. Dann beschließt er, es zu riskieren, den Kontakt mit Black zu unterbrechen, und betritt den Laden. Wenn es nicht eine Täuschung ist, denkt er, und Black vorhat, die Lebensmittel wegzuwerfen und davonzulaufen, ist es ziemlich sicher, dass er auf dem Heimweg ist. Blue macht daher seine eigenen Einkäufe, nimmt nebenan noch eine Zeitung und mehrere Zeitschriften mit und kehrt dann in sein eigenes Zimmer in der Orange Street zurück. Tatsächlich sitzt Black schon an seinem Tisch beim Fenster und schreibt in demselben Notizbuch wie tags zuvor.
    Wegen des Schnees ist die Sicht schlecht, und Blue kann nur mit Mühe erkennen, was in Blacks Zimmer geschieht. Auch der Feldstecher ist keine große Hilfe. Der Tag bleibt dunkel, und durch den endlos fallenden Schnee gesehen, ist Black nicht mehr als ein Schatten. Blue findet sich mit einem langen Warten ab und wendet sich der Zeitung und den Zeitschriften zu. Er ist ein begeisterter Leser von Wahre Detektivgeschichten und versucht, nie einen Monat zu versäumen. Nun da er viel Zeit hat, liest er die neue Ausgabe gründlich, sogar die kleinen Notizen und Anzeigen auf den letzten Seiten. Versteckt zwischen den Spezialartikeln über Gangsterjäger und Geheimagenten steht ein kurzer Artikel, der Blue besonders anspricht, und auch als er das Magazin zu Ende gelesen hat, fällt es ihm schwer, nicht daran zu denken. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte man in einem Waldstück außerhalb Philadelphias einen kleinen Jungen ermordet aufgefunden. Obwohl die Polizei sofort den Fall aufnahm, gelang es ihr nie, eine Spur zu finden. Sie hatte nicht nur keine Verdächtigen, sie konnte nicht einmal den Jungen identifizieren. Wer er war, woher er gekommen, warum er dort war – alle diese Fragen blieben unbeantwortet. Schließlich wurde der Fall zu den Akten gelegt, und wäre nicht der Leichenbeschauer gewesen, der mit der Autopsie an dem Jungen beauftragt worden war, würde man ihn völlig vergessen haben. Dieser Mann, der Gold hieß, war von dem Mordfall besessen. Bevor das Kind begraben wurde, nahm er ihm eine Totenmaske ab, und seitdem widmete er dem Geheimnis so viel Zeit, wie er erübrigen konnte. Nach zwanzig Jahren erreichte er das Pensionsalter, er gab seine Stellung auf und arbeitete von nun an jeden Augenblick an dem Fall. Aber er hatte kein Glück; er machte keine Fortschritte und kam der Aufklärung des Verbrechens keinen Schritt näher. Der Artikel in Wahre Detektivgeschichten beschreibt, wie er nun eine Belohnung von zweitausend Dollar für jeden aussetzt, der Auskunft über den kleinen Jungen geben kann. Abgedruckt ist auch eine körnige, retuschierte Fotografie des Mannes, der die Totenmaske in den Händen hält. Der Blick in seinen Augen ist so gequält und flehend, dass Blue kaum seine eigenen Augen abwenden kann. Gold wird nun alt, und er fürchtet, dass er sterben wird, bevor er den Fall lösen kann. Blue ist tief gerührt. Wenn es möglich wäre, würde er am liebsten aufgeben, was er tut, und versuchen, Gold zu helfen. Es gibt nicht genügend Männer wie ihn, denkt er. Wenn der Junge Golds Sohn wäre, würde das Ganze einen Sinn haben: schlicht und einfach Rache, und das kann jeder verstehen. Aber der Junge war ihm völlig fremd, er ist ihm in keiner Weise persönlich verbunden; es gibt keinen Hinweis auf ein geheimes Motiv. Dieser Gedanke bewegt Blue
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