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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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in Salem, schloss sich in seinem Zimmer ein und kam zwölf Jahre nicht mehr heraus.
    Was tat er da drinnen?
    Er schrieb Geschichten.
    Ist das alles? Er schrieb nur?
    Schreiben ist ein einsames Geschäft. Es nimmt das ganze Leben in Anspruch. In einem gewissen Sinne hat ein Schriftsteller kein eigenes Leben. Selbst wenn er da ist, ist er nicht wirklich da.
    Auch ein Gespenst.
    Genau.
    Klingt geheimnisvoll.
    Ist es auch. Aber, sehen Sie, Hawthorne schrieb großartige Geschichten, und wir lesen sie heute noch, nach mehr als hundert Jahren. In einer von ihnen beschließt ein Mann namens Wakefield, seiner Frau einen Streich zu spielen. Er sagt ihr, dass er für ein paar Tage geschäftlich verreisen muss, aber anstatt die Stadt zu verlassen, geht er nur um die Ecke, mietet ein Zimmer und wartet ab, was geschehen wird. Er kann nicht mit Sicherheit sagen, warum er das tut, aber er tut es trotzdem. Drei oder vier Tage vergehen, aber er fühlt sich noch nicht bereit, nach Hause zurückzukehren, und so bleibt er in dem gemieteten Zimmer. Aus den Tagen werden Wochen, aus den Wochen Monate. Eines Tages geht Wakefield seine alte Straße hinunter und sieht an seinem Haus schwarzen Flor für seine eigene Trauerfeier, und seine Frau ist eine einsame Witwe geworden. Jahre vergehen. Ab und zu kreuzen sich seine Wege mit denen seiner Frau, und einmal, mitten in einer großen Menge, streift er sie sogar. Aber sie erkennt ihn nicht. Noch mehr Jahre vergehen, mehr als zwanzig Jahre, und mittlerweile ist Wakefield ein alter Mann geworden. In einer regnerischen Herbstnacht, als er einen Spaziergang durch die leeren Straßen macht, kommt er zufällig an seinem alten Haus vorbei und guckt durch das Fenster. Im Kamin brennt ein schönes, warmes Feuer, und er denkt sich: Wie angenehm wäre es, wenn ich jetzt da drinnen in einem dieser gemütlichen Sessel beim Feuer säße, anstatt hier draußen im Regen zu stehen. Und ohne weiter darüber nachzudenken, geht er die Stufen vor dem Haus hinauf und klopft an die Tür.
    Und dann?
    Das ist es. Das ist das Ende der Geschichte. Das Letzte, was wir sehen, ist, wie die Tür aufgeht und Wakefield mit einem verschmitzten Lächeln eintritt.
    Und wir erfahren nicht, was er zu seiner Frau sagt?
    Nein. Das ist das Ende. Kein weiteres Wort. Aber er zog wieder ein und blieb ein liebender Gatte bis zu seinem Tode.
    Der Himmel hat sich allmählich verdunkelt, und die Nacht kommt schnell heran. Ein letzter Schimmer von Rosa ist noch im Westen zu sehen. Black nimmt die Dunkelheit zum Anlass aufzustehen.
    Es war ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen, sagt er und streckt Blue die Hand entgegen. Ich hatte keine Ahnung, dass wir schon so lange hier sitzen.
    Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, sagt Blue, erleichtert, dass das Gespräch vorüber ist; er ahnt, dass sein Bart gleich verrutschen wird, denn die Sommerhitze und seine Nerven lassen ihn in den Klebstoff schwitzen.
    Mein Name ist Black, sagt Black und schüttelt Blue die Hand.
    Ich heiße Jimmy, sagt Blue. Jimmy Rose.
    Ich werde mich noch lange an unser kleines Gespräch erinnern, Jimmy, sagt Black.
    Ich auch, sagt Blue. Sie haben mir eine Menge zum Nachdenken gegeben.
    Gott segne Sie, Jimmy Rose, sagt Black.
    Und Gott segne Sie, Sir, sagt Blue.
    Und nach einem letzten Händedruck gehen sie in entgegengesetzten Richtungen davon, jeder von seinen eigenen Gedanken begleitet.
    Später an diesem Abend, als Blue in sein Zimmer zurückkehrt, beschließt er, Jimmy Rose zu begraben und sich seiner für immer zu entledigen. Der alte Landstreicher hat seinen Zweck erfüllt, und es wäre nicht klug, noch weiterzugehen.
    Blue ist froh, diesen ersten Kontakt hergestellt zu haben, aber die Begegnung hatte nicht ganz die gewünschte Wirkung. Alles in allem ist er ein wenig unruhig. Denn obwohl das Gespräch nichts mit dem Fall zu tun hatte, kann sich Blue des Eindrucks nicht erwehren, dass Black tatsächlich ständig darauf anspielte – er sprach sozusagen in Rätseln, so als versuchte er, Blue etwas zu sagen, was er aber nicht laut auszusprechen wagte. Ja, Black war mehr als freundlich, seine Art war durchaus angenehm, aber Blue wird den Gedanken nicht los, dass ihn der Mann von Anfang an durchschaute. Wenn es so ist, dann ist Black sicherlich einer der Verschwörer – denn warum hätte er sonst so lange mit Blue gesprochen? Gewiss nicht aus Einsamkeit. Wenn man davon ausgeht, dass Black echt ist, kann Einsamkeit kein Problem für ihn sein. Alles an seinem bisherigen
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