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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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Gesellschaft lebt. Ein wenig verrückt vielleicht, aber harmlos: Er strahlt einen sanften Gleichmut gegenüber der Welt um ihn herum aus, denn da ihm schon alles widerfahren ist, kann ihn nichts mehr aus der Ruhe bringen.
    Blue postiert sich an einer passenden Stelle auf der anderen Straßenseite, nimmt ein Stück eines zerbrochenen Vergrößerungsglases aus der Tasche und beginnt eine verknitterte Zeitung vom Vortag zu lesen, die er in einer der Mülltonnen in der Nähe gefunden hat. Zwei Stunden später erscheint Black. Er kommt die Stufen seines Hauses herunter und wendet sich in Blues Richtung. Black achtet nicht auf den Landstreicher – entweder weil er in Gedanken versunken ist oder weil er ihn absichtlich ignoriert –, und deshalb spricht ihn Black, als er näher kommt, mit einer angenehmen Stimme an.
    Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig, Mister?
    Black bleibt stehen, mustert das zerlumpte Geschöpf, das eben gesprochen hat, entspannt sich und lächelt, als er erkennt, dass er nicht in Gefahr ist. Dann greift er in die Tasche, holt eine Münze heraus und drückt sie Blue in die Hand.
    Hier, nehmen Sie, sagt er.
    Gott segne Sie, sagt Blue.
    Danke, antwortet Black gerührt.
    Keine Angst, sagt Blue. Gott segnet alle.
    Und nach diesen beruhigenden Worten zieht Black vor Blue den Hut und setzt seinen Weg fort.
    Am nächsten Nachmittag wartet Blue, wieder als Landstreicher verkleidet, an derselben Stelle auf Black. Er ist entschlossen, das Gespräch diesmal, da er nun Blacks Vertrauen gewonnen hat, ein wenig in die Länge zu ziehen, aber ihm wird das Problem abgenommen, da Black selbst den Wunsch zeigt, bei ihm zu verweilen. Es ist schon spät am Tage, noch nicht Dämmerung, aber nicht mehr Nachmittag, die zwielichtige Stunde der langsamen Veränderungen, der glühenden Ziegel und Schatten. Nachdem er den Landstreicher herzlich begrüßt und ihm wieder eine Münze gegeben hat, zögert Black einen Augenblick, als überlegte er, ob er den Sprung wagen soll, und dann sagt er:
    Hat Ihnen schon jemand gesagt, dass Sie wie Walt Whitman aussehen?
    Walt wer?, antwortet Blue, seiner Rolle eingedenk.
    Walt Whitman. Ein berühmter Dichter.
    Nein, sagt Blue. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn kenne.
    Sie können ihn nicht kennen, sagt Black. Er lebt nicht mehr. Aber die Ähnlichkeit ist bemerkenswert.
    Nun, Sie wissen ja, wie man sagt, sagt Blue. Jeder Mensch hat irgendwo seinen Doppelgänger. Ich sehe nicht ein, warum meiner nicht ein Toter sein kann.
    Das Komische, fährt Black fort, ist, dass Walt Whitman in dieser Straße arbeitete. Er druckte sein erstes Buch hier, nicht weit von der Stelle, an der wir stehen.
    Was Sie nicht sagen, sagt Blue und schüttelt gedankenvoll den Kopf. Das stimmt einen nachdenklich, nicht wahr?
    Es gibt ein paar merkwürdige Geschichten über Whitman, sagt Black und fordert Blue mit einer Geste auf, sich auf die Treppe des Hauses hinter ihnen zu setzen. Das tut er, und dann setzt sich auch Black, und plötzlich sind nur noch die beiden da draußen im Sommerlicht zusammen und plaudern miteinander wie zwei alte Freunde über dies und das.
    Ja, sagt Black und setzt sich bequem zurecht in der Trägheit des Augenblicks, eine Anzahl sehr merkwürdiger Geschichten. Die über Whitmans Gehirn, zum Beispiel. Sein ganzes Leben lang glaubte Whitman an die Wissenschaft der Phrenologie. Sie wissen, das Deuten der Unebenheiten auf dem Schädel. Es war damals sehr populär.
    Kann nicht sagen, dass ich je davon gehört habe, antwortet Blue.
    Das spielt keine Rolle, sagt Black. Die Hauptsache ist, dass sich Whitman für Gehirne und Schädel interessierte – er glaubte, sie könnten einem alles über den Charakter eines Menschen sagen. Jedenfalls, als Whitman vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren drüben in New Jersey im Sterben lag, stimmte er zu, dass man eine Autopsie an ihm vornahm, nachdem er gestorben war.
    Wie konnte er zustimmen, nachdem er gestorben war?
    Ah, ein guter Einwand. Ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Er lebte noch, als er zustimmte. Er wollte, dass sie wussten, dass er nichts dagegen hatte, wenn sie ihn später aufschnitten. Es war sozusagen sein letzter Wunsch.
    Berühmte letzte Worte.
    Richtig. Viele Leute dachten, er sei ein Genie, sehen Sie, und sie wollten sich sein Gehirn ansehen, um herauszubekommen, ob irgendetwas Besonderes daran war. Am Tag nachdem er gestorben war, entfernte ein Arzt Whitmans Gehirn – er schnitt es einfach aus seinem Kopf heraus – und schickte
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