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Schlagschatten

Schlagschatten

Titel: Schlagschatten
Autoren: Paul Auster
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die übrige Welt nur durch Worte zu sehen, nur durch das Leben anderer zu leben. Aber wenn das Buch interessant wäre, würde das vielleicht gar nicht so schlecht sein. Er könnte sozusagen von der Geschichte gefangen genommen werden und nach und nach sich selbst vergessen. Doch dieses Buch bietet ihm nichts. Es gibt keine Geschichte, keine Handlung – nichts als einen Mann, der allein in einem Zimmer sitzt und ein Buch schreibt. Das ist alles, erkennt Blue, und er will nichts mehr damit zu tun haben. Aber wie kommt man heraus? Wie kommt man aus dem Zimmer, welches das Buch ist, das so lange weitergeschrieben wird, wie er in dem Zimmer bleibt?
    Was Black angeht, den so genannten Verfasser dieses Buches, so kann Blue dem, was er sieht, nicht mehr trauen. Ist es möglich, dass es wirklich einen solchen Mann gibt – der nichts tut, der nur in seinem Zimmer sitzt und schreibt? Blue ist ihm überallhin gefolgt, er hat ihn in den fernsten Winkeln aufgespürt, hat ihn so scharf beobachtet, dass seine Augen zu versagen scheinen. Selbst wenn er wirklich einmal sein Zimmer verlässt, geht Black nie irgendwohin, er tut nie viel: Lebensmittel einkaufen, gelegentlich die Haare schneiden lassen, ins Kino gehen und so weiter. Aber meist schlendert er nur durch die Straßen und schaut sich ein wenig in der Gegend um. Nur ab und zu wendet er sich auch mal Einzelheiten zu. Eine Weile lang sind es Gebäude – er verrenkt sich den Hals, um einen Blick auf die Dächer zu erhaschen, inspiziert Hauseingänge, fährt mit den Händen langsam über die Steinfassaden. Und dann sind es eine Woche oder zwei öffentliche Statuen oder die Boote auf dem Fluss oder die Straßenschilder. Nicht mehr als das, kaum einmal ein Wort zu irgendjemandem und keine Begegnungen mit anderen, abgesehen von dem Mittagessen mit der weinenden Frau, das nun schon so lange zurückliegt. In einem gewissen Sinne weiß Blue über Black alles, was es zu wissen gibt: Was für eine Art von Seife er kauft, welche Zeitungen er liest, was für Kleidung er trägt, und all das hat er getreulich in seinem Notizbuch vermerkt. Er hat tausend Einzelheiten erfahren, aber das Einzige, was sie ihn gelehrt haben, ist, dass er nichts weiß. Denn es bleibt die Tatsache bestehen, dass nichts davon möglich ist. Es ist nicht möglich, dass ein Mann wie Black existiert. Folglich steigt in Blue der Verdacht auf, dass Black nicht mehr als ein Trick ist, dass er ebenfalls von White angeheuert und wöchentlich dafür bezahlt wird, in diesem Zimmer zu sitzen und nichts zu tun. Vielleicht ist die ganze Schreiberei nur Täuschung – Seite für Seite: eine Liste aller Namen im Telefonbuch, zum Beispiel, oder jedes Wort aus dem Wörterbuch in alphabetischer Reihenfolge oder eine handschriftliche Kopie von Walden. Oder vielleicht sind es nicht einmal Wörter, sondern sinnlose Kritzeleien, zufällige Abdrücke einer Feder, eine wachsende Menge von Unsinn und Verwirrung. Dann wäre White der eigentlich Schreibende – und Black nicht mehr als ein Double, ein Schwindler, ein Schauspieler ohne eigene Substanz. Und es gibt Zeiten, in denen Blue diesen Gedanken weiter verfolgt und glaubt, dass Black nicht ein Mann ist, sondern mehrere. Zwei, drei, vier Männer, die gleich aussehen und für Blue die Rolle von Black spielen, wobei jeder die ihm zugeteilte Zeit ableistet und dann in die Behaglichkeit von Heim und Herd zurückkehrt. Aber dieser Gedanke ist für Blue zu ungeheuerlich, als dass er ihm sehr lange nachhängen könnte. Monate vergehen, und schließlich sagt er laut zu sich selbst: Ich kann nicht mehr atmen. Das ist das Ende. Ich sterbe.
    Es ist Hochsommer 1948. Blue bringt endlich den Mut auf zu handeln, er öffnet seine Tasche mit den Verkleidungen und denkt über eine neue Identität nach. Nachdem er mehrere Möglichkeiten verworfen hat, entschließt er sich für einen alten Mann, der an den Straßenecken in seinem Viertel bettelte, als Blue noch ein Junge war – ein Original namens Jimmy Rose –, und er staffiert sich als Landstreicher aus: ein zerrissener wollener Anzug, Schuhe, die mit Bindfäden zusammengehalten sind, damit die Sohlen nicht herunterhängen, eine verschlissene Reisetasche mit seinem Hab und Gut und schließlich ein wallender weißer Bart und lange weiße Haare. Zuletzt sieht er aus wie ein Prophet aus dem Alten Testament. Blue als Jimmy Rose ist nicht so sehr ein krätziges heruntergekommenes Subjekt als vielmehr ein weiser Narr, ein Heiliger der Armut, der am Rande der
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