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Schlaflos

Schlaflos

Titel: Schlaflos
Autoren: Monika Bender
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den sie
nicht kannte.
    Ihrem Durst nachzugeben war riskant. Aber sie konnte es nur
hinauszögern. Ganz unterdrücken konnte sie ihre Bedürfnisse nicht. Sie würde
trinken müssen. Schon sehr bald.
    Am Himmel leisteten weitere Sterne dem Abendstern
Gesellschaft. Eine honiggelbe Mondsichel stach aus dem Geäst einer alten
Kastanie hervor. Die Luft war deutlich abgekühlt, gerade so, wie Madeleine es
mochte. Es versprach, eine herrliche Frühsommernacht zu werden. Eine Nacht die
sie, wie so viele zuvor, in ihrer winzigen Wohnung zubrachte. Sie würde sich
hirnrissige Fernsehsendungen ansehen, fast ohne Ton, damit ihre Vermieter
nichts mitbekamen. Und sie würde mit ihrem Durst kämpfen, der immer deutlicher
sein Recht einforderte.
    Warum quälte sie sich so? Machte das überhaupt noch Sinn? War
sie nicht in dieser Situation ebenso gefangen, als säße sie in Bastiens
Schlossverlies? Mehr sogar, musste sie doch in dieser scheinbaren Freiheit ihr
innerstes Wesen unter Verschluss halten.
    Sie ertrug es nicht länger! Der Durst brannte in ihren
Eingeweiden. Ihre Seele schmerzte von der Langeweile endloser, stupider Tage
und Nächte. Sie war bereit alles zu riskieren, um dieser Trostlosigkeit zu
entkommen.
    Nur diese eine Nacht! Nur die paar Stunden, bis die Sonne
wieder aufgeht!
    Sie könnte, mit wesentlich geringerem Risiko, Nahrung in der
unmittelbaren Nachbarschaft finden, wenn es allein um Blut ginge. Was es nicht
tat. Kein bisschen.
    Mit der Dunkelheit entfalteten sich Madeleines Sinne. Sie
spürte die Nähe der Stadt. Den hellen Schein im Norden, der die Dunstglocke des
Stadtzentrums markierte, hätte sie als Wegweiser nicht gebraucht. Sie fühlte,
roch, schmeckte die Essenz von Tausenden von Menschen. Es war Freitagabend.
Viele amüsierten sich, tranken oder konsumierten andere Drogen. Besonders die
Jungen und die Leichtsinnigen. Die mit Feuer und Leidenschaft im Blut. Das war
ihre Welt! Das war es, was ihren Appetit anregte! Nicht das träge, dicke Blut
der langweiligen, gediegenen Familienväter in diesem öden Viertel. Diese Leute
erstickten in ihren Ansprüchen, ihrer betulichen Kultiviertheit.
    Madeleine wusste, es war pure Unvernunft. Solche unüberlegten
Aktionen hatten sie bereits wiederholt in Gefahr gebracht. Aber ihre Seele
hungerte nach Zerstreuung.
    Sie sah hinauf zum Mond, ließ sich von der reinen, kühlen
Energie der Nacht durchdringen. Hatte sie selbst den Entschluss gefasst, oder
hatte die samtene Dunkelheit um sie herum die Entscheidung für sie getroffen?
Sie fühlte sich leicht wie eine Feder im Nachtwind. Beinahe konnte sie die
warmen Polster der Aufwinde unter ihren ausgebreiteten Schwingen spüren. Und
dann geschah es. Der Gedanke wurde Wirklichkeit. Ein bauschiges Kleid aus
Federn umhüllte sie, schwarz und glänzend. Ihre Arme waren Flügel, die sie
hinauf in den mondhellen Abendhimmel trugen. Ein großer Rabe, der mit der Nacht
verschmolz.
     

05
    Der Rabe landete auf dem flachen Dach eines niedrigen
Gebäudes. Schnell wie ein Wimpernschlag verwandelte er sich zurück in
Madeleine. Das Federkleid wurde zu einem Gewand. Das Material erinnerte an die
Schwingen des Vogels. Es war schwarz und reflektierte schillernd das Mondlicht.
    Hinter dem Haus verlief eine ruhige, leere Gasse. Sie spitzte
die Ohren. Keine Stimmen, keine Schritte. Nur dort drüben, neben den Müllcontainern,
verborgen unter einem Berg Zeitungen, bemerkte sie einen trägen Herzschlag. Ein
Penner, der seinen Rausch ausschlief.
    Sie trat über den Rand des Daches hinaus, fiel mehrere Meter
tief, und landete so lautlos und elegant wie eine Katze. Leichtfüßig schritt
sie über das verdreckte Kopfsteinpflaster, verließ die Seitenstraße. Ihre Füße
waren nackt, aber das störte sie nicht. Der Schmutz der Straße haftete nicht an
ihrer perlweißen Haut.
    In dieser Gegend waren die Häuser ungepflegt, die Straßen
schmutzig. Nach der Hitze des Tages roch es in den Ecken nach Abfall. Die Nacht
und ihre Lichter bildeten das perfekte Make-up. Überall blinkten
Leuchtreklamen, lockten Nachtschwärmer an, die sich nur zu gerne verführen
ließen. Köpfe drehten sich um nach Madeleine. Die Augen von Männern folgten ihr
verlangend, die der Frauen bewundernd oder neidisch. Sie wusste, dass sie
leuchtete, in einem Licht, das nicht sichtbar war, das aber die Menschen anzog
wie Motten. Hin und wieder sprachen Türsteher sie an. Sie lächelte nur,
schüttelte den Kopf. Die Türen und Wände setzten ihren Sinnen keinen
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