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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul
Autoren: Vera Hohleiter
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andere auch, pittoresk und aufregend
     finden.

|16| Glühwürmchen und andere Erscheinungen
    Eigentlich wollte ich nur einen Monat in Korea bleiben. Hätte ich im Laufe dieses Monats nicht einen jungen Koreaner namens
     Sung-Jo – oder kurz und amerikanisiert Joe – kennengelernt, wäre ich im September nach Deutschland zurückgereist und Korea
     wäre nach und nach in meiner Erinnerung verblasst. Korea hätte nichts weiter bedeutet als einen weiteren Stempel in meinem
     abgegriffenen Pass, ein Kleidungsstück vom Dongdaemun-Markt, das ich in meinem Berliner Kleiderschrank neben mein Suzie-Wong-Kleid
     aus China und meine bestickte Bluse aus der Ukraine gehängt hätte, eine Anekdote, die ich manchmal auf Partys zum Besten gegeben
     hätte.
    Als ich mich nach einer sinnvollen Beschäftigung für den Sommer umsah, bewarb ich mich erst für ein internationales Projekt
     in einem Dorf irgendwo in der koreanischen Provinz, das sich in den letzten Jahren zu einer Art Hippiekommune und einem Aussteigerparadies
     entwickelt hatte. Nur zu neugierig auf koreanische Hippies, war ich ziemlich enttäuscht, als ich erfuhr, dass ich nicht für
     das Projekt ausgewählt worden war. Stattdessen wurde ich einer Gruppe zugeteilt, die in Bundang, einer Satellitenstadt im
     Süden von Seoul, Glühwürmchen beobachten sollte. Die Absurdität dieses Vorhabens hatte in meinen Augen etwas Poetisches. Mir
     fiel ein Ausspruch von Winston Churchill ein: »Wir sind alle Würmer, nur glaube ich, dass ich ein Glühwürmchen bin.« Ich wollte
     auch gerne glauben, ein Glühwürmchen zu sein.
    Später stellte sich heraus, dass auch Joe sich für das Projekt |17| in der Hippiekommune beworben hatte und eher unfreiwillig bei den Glühwürmchen gelandet war. Ob es ein Zufall oder Schicksal
     war, dass wir uns im August 2005 über den Weg liefen, bleibt letztendlich Ansichtssache. Ich erinnere mich nur, dass Joe mich
     am 15.   August 2005 um 15   Uhr an der Yatap U-Bahn -Haltestelle abholte. Das weiß ich noch so genau, weil das die vereinbarte Zeit und der Treffpunkt waren, die mir die koreanische
     Organisation, die unser internationales Glühwürmchen-Projekt durchführte, genannt hatte. Joe sollte alle Ausländer an der U-Bahn abholen. Die anderen waren bereits früher eingetroffen. Als ich ankam, wartete er alleine.
    An diesem 15.   August war es ruhig auf dem großen Platz vor der Yatap U-Bahn -Haltestelle. Nachmittags war es so heiß, dass sich niemand vor die Tür wagte, wenn er keinen triftigen Grund dafür hatte.
     In Korea ist der 15.   August ein Nationalfeiertag. Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki hatte der japanische Kaiser Hirohito am
     Nachmittag des 15.   August 1945   Japans Kapitulation im Radio verkündet. Damit endete die 3 5-jährige japanische Besatzungsherrschaft in Korea. Japans Niederlage wurde zu Koreas Triumph und somit für die Koreaner ein Grund
     zum Feiern.
    Joe sprach mich an. Nach Bundang verirren sich nicht viele Ausländer und ihm war sofort klar, dass ich zu seiner Gruppe gehören
     musste. Er begrüßte mich, hakte meinen Namen auf einer Liste ab und erklärte mir, dass wir noch auf eine junge Kroatin namens
     Martina warten müssten. Wir setzten uns irgendwo in den Schatten – was nicht viel half, denn selbst im Schatten war es unerträglich
     heiß. Wir warteten fünfundvierzig Minuten auf Martina.
    Worüber wir uns in dieser Zeit unterhielten, habe ich vergessen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich – wie so oft – ziemlich
     viel und ziemlich schnell redete und dass Joe zuhörte und lachte. Damals dachte ich, dass er über meine Witze lachte, aber
     inzwischen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass er |18| mit größter Wahrscheinlichkeit über mich lachte. Irgendwann, Monate später, gestand er mir, dass er mich, als er mich damals
     sah, sehr hübsch, aber auch sehr seltsam fand. Mir fiel zuerst auf, dass er sehr groß und gutaussehend war, aber ziemlich
     müde wirkte.
    Irgendwann kam Martina. Joe nahm unsere Gepäckstücke und eskortierte uns beide zu seinem Kombi, in dem sich unser Gepäck problemlos
     verstauen ließ. Ich fragte mich allerdings, wofür er so ein großes Auto benötigte. In seinem Auto fielen mir zwei Gegenstände
     auf: ein Kreuz, das vom Spiegel baumelte – woran sich unschwer erkennen ließ, dass Joe einer der zahlreichen koreanischen
     Christen war – und ein kleines Männchen aus gebranntem Ton mit verzogenem Gesicht und herausquellenden Augen. Ich
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