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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul
Autoren: Vera Hohleiter
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Körperbehaarung   … Opfer solcher verbaler Attacken haben mehrere Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen. Manche ärgern sich und versuchen,
     sich an den koreanischen Schönheitsstandard anzupassen und das bemängelte Körperteil entweder zu verbergen oder – sofern möglich
     – den vermeintlichen Mangel zu beseitigen. Andere betonen aus Trotz ihre Fehler und liefern koreanischen Lästermäulern noch
     mehr Diskussionsstoff, was die Situation ins Groteske ziehen kann. Die vernünftigste Lösung ist sicher, sich immer wieder
     selbst zu bestätigen, dass man zumindest in Europa als normal aussehender Mensch akzeptiert wird. Tröstlich mag auch sein,
     dass zu den in Korea als nicht besonders attraktiv geltenden Menschen Nicole Kidman, Liv Tyler, Natalie Portman, Tyra Banks
     und andere international gefeierte Schönheiten gehören.
    Ironischerweise sehen die meisten Koreaner, die gerne über Ausländer lästern, selbst nicht so aus, als seien sie über jede
     Kritik erhaben. Viele Koreaner haben einen Kleidungsstil, der diplomatisch ausgedrückt »gewöhnungsbedürftig« ist und mögen
     Farbkombinationen, die in Europa vermutlich als gewagt gelten würden. Moden wechseln in Seoul schnell. Während die ältere
     Generation einen konservativ-zurückhaltenden Kleidungsstil pflegt, kleiden sich junge Koreaner meist auffällig-bunt. Aus der
     Garderobe der jungen Frauen sind winzige Miniröcke und Hot Pants nicht mehr wegzudenken.
    Der Übergang von körperverhüllenden Gewändern zu provokativeren Outfits auf den Straßen von Seoul ist ein modisches Phänomen,
     das allerdings bei vielen in den Köpfen noch |27| nicht angekommen ist. Viele junge Koreanerinnen tragen zwar winzige Miniröcke, fühlen sich aber offensichtlich äußerst unwohl
     darin. Überall in Seoul lassen sich junge Frauen beobachten, die jedes Mal, wenn sie eine Treppe hinaufsteigen, ihre Handtasche
     hinter sich hertragen, um damit die Rückseite ihrer Oberschenkel vor ungewollten Blicken zu schützen.
    In einer Fernsehshow, in der Prominente kniffelige Fragen beantworten müssen, sitzen die Gäste – wie in traditionellen koreanischen
     Häusern – nebeneinander auf dem Boden. Junge Starlets sind oft von der Taille an in Wolldecken eingehüllt. Als ich die Sendung
     zum ersten Mal sah, fand ich den Anblick irritierend, weil ich nicht verstand, warum junge Sängerinnen und Schauspielerinnen
     den Auftritt nicht dazu nutzten, um sich in einem spektakulären Outfit von ihrer besten Seite zu präsentieren. Die Antwort
     war denkbar einfach: Die Outfits unter der Wolldecke waren spektakulär, nur eben ziemlich knapp und wurden deshalb bedeckt.
    Bei der Übertragung einer Preisverleihung sah ich einmal eine junge koreanische Schauspielerin in einem roséfarbenen, großzügig
     ausgeschnittenen Minikleid. Mit einer Hand hielt sie ihr winziges Clutch-Täschchen schützend vor ihre Oberschenkel, mit der
     anderen Hand versuchte sie verzweifelt, ihr Dekolleté zu bedecken. Der Anblick war fast schon schmerzhaft peinlich. Ich fragte
     mich ernsthaft, warum sie nicht – wie der Großteil der anderen Stars – in langer Robe erschienen war, sondern zu dem Minikleid
     gegriffen hatte, das ihr offenbar so großes Unbehagen bereitete.
    Überall auf der Welt kreieren Trendsetter Moden, die dann von Nachmachern weiterverbreitet werden. Mode entsteht immer aus
     dem Spannungsfeld zwischen individueller Kaufentscheidung, Anpassung an den Gruppendruck und dem Wunsch, in der Öffentlichkeit
     ein gesellschaftlich akzeptables Äußeres zu präsentieren. In Europa wird Mode als Ausdruck der Individualität angesehen, in
     Korea liegt der Akzent eher |28| auf dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe. Während im westlichen Ausland Mode dazu genutzt wird, sich selbst zu inszenieren
     und Aufmerksamkeit zu erhaschen, ist Mode in Korea eine Möglichkeit, unterzutauchen und sich anzupassen. Koreaner sind davon
     überzeugt, dass Gleichförmigkeit Harmonie erzeugt. Wenn die Anpassung das Tragen eines winzigen Minirocks verlangt, nehmen
     die meisten Koreanerinnen gerne die unbequemen Nebeneffekte auf sich. Sticheleien haben sie schließlich nicht zu befürchten.
     Auch wenn das Outfit provokativ ist: solange alle uniformartig dieselben Miniröcke, ähnliche Schuhe und Frisuren tragen, bietet
     sich keine Angriffsfläche für negative Äußerungen und Kritik. Die Einzigen, die sich täglich dem Spott der Massen aussetzen,
     sind die in Korea lebenden Ausländer,
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