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Schlafender Tiger. Großdruck.

Schlafender Tiger. Großdruck.

Titel: Schlafender Tiger. Großdruck.
Autoren: Rosamunde Pilcher
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früh zu „Wool­lands“ ge­hen.
    Ein klei­nes Mäd­chen, be­glei­tet von sei­nem Va­ter und ei­nem klei­nen Hund, kam auf ei­nem Drei­rad vor­bei. Es hat­te ro­te Strumpf­ho­sen und ein blau­es Kleid an und ein schwar­zes Band im Haar. Der Va­ter war noch ziem­lich jung und trug einen Roll­kra­gen­pull­over und ein Twee­d­jackett. Als die Klei­ne ihr Drei­rad an­hielt und über das Gras lief, um an den Kro­kus­sen zu rie­chen, mach­te er kei­nen Ver­such, sie auf­zu­hal­ten, son­dern sah ihr lä­chelnd zu, wäh­rend er das Drei­rad fest­hielt. „Sie rie­chen ja gar nicht“, sag­te das klei­ne Mäd­chen.
    Ihr Va­ter nick­te. „Das hät­te ich dir vor­her sa­gen kön­nen.“
    „Warum rie­chen sie nicht?“
    „Ich ha­be kei­ne Ah­nung.“
    „Ich dach­te, al­le Blu­men rie­chen.“
    „Die meis­ten schon. Komm jetzt, laß uns wei­ter­ge­hen.“
    „Kann ich wel­che pflücken?“
    „Das wür­de ich lie­ber nicht tun.“
    „Warum nicht?“
    „Die Park­wäch­ter mö­gen das nicht.“
    „Warum nicht?“
    „Es ist ei­ne Vor­schrift.“
    „Warum?“
    „Nun, weil an­de­re Leu­te sie sich auch gern an­se­hen. Komm jetzt.“
    Das klei­ne Mäd­chen ge­horch­te, stieg wie­der auf sein Drei­rad und fuhr wei­ter, ge­folgt von sei­nem Va­ter.
    Se­li­na hat­te die­se klei­ne Sze­ne be­ob­ach­tet, hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen Ver­gnü­gen und Weh­mut. Ihr gan­zes Le­ben lang hat­te sie Ge­sprä­che an­de­rer Fa­mi­li­en, an­de­rer Kin­der, an­de­rer El­tern be­lauscht. Die Art, wie sie mit­ein­an­der um­gin­gen, führ­te bei ihr zu end­lo­sen Spe­ku­la­tio­nen. Als Kind war sie oft von Agnes, ih­rem Kin­der­mäd­chen, mit in den Park ge­nom­men wor­den, wo sie schüch­tern an­de­re Kin­der beim Spie­len be­ob­ach­tet hat­te, sehn­süch­tig dar­auf war­tend, daß man sie zum Mit­ma­chen auf­for­der­te, je­doch zu ängst­lich, um zu fra­gen. Sie wur­de nur sel­ten auf­ge­for­dert. Ih­re Klei­dung war viel zu sau­ber und adrett, und Agnes, die stri­ckend auf ei­ner Bank in der Nä­he saß, konn­te äu­ßerst furcht­ein­flö­ßend aus­se­hen. Wenn Ge­fahr be­stand, daß Se­li­na sich mit Kin­dern ab­gab, die die al­te Mrs. Bru­ce für „un­pas­send“ ge­hal­ten hät­te, roll­te Agnes ihr Woll­knäu­el auf, steck­te die Na­deln hin­ein und rief ihr zu, es sei Zeit, nach Queen's Ga­te zu­rück­zu­keh­ren.
    Se­li­nas Zu­hau­se war ein Frau­en­haus­halt, ei­ne klei­ne, weib­li­che Welt, re­giert von Mrs. Bru­ce. Agnes, die frü­her ihr Haus­mäd­chen ge­we­sen war, Mrs. Hop­kins, die Kö­chin, und Se­li­na wa­ren ih­re ge­hor­sa­men Un­ter­ta­nen. Män­ner, au­ßer Mr. Ar­thur­sto­ne, Groß­mut­ters An­walt, oder in den letz­ten Jah­ren Rod­ney Ack­land, der Mr. Ar­thur­sto­ne ver­trat, hat­ten so gut wie nie das Haus be­tre­ten. Und wenn es doch ei­ner tat - um ein Rohr zu re­pa­rie­ren, et­was an­zu­strei­chen oder einen Zäh­ler ab­zu­le­sen-, fand man Se­li­na un­wei­ger­lich in sei­ner Ge­sell­schaft, eif­rig Fra­gen stel­lend. War er ver­hei­ra­tet? Hat­te er Kin­der? Wie hie­ßen sie? Wo­hin fuh­ren sie in Ur­laub? Es wa­ren die we­ni­gen An­läs­se, bei de­nen Agnes är­ger­lich wur­de.
    „Was um Him­mels wil­len wür­de dei­ne Groß­mut­ter sa­gen, wenn sie hö­ren könn­te, wie du den Mann von der Ar­beit ab­hältst?“
    „Tu ich gar nicht.“ Manch­mal konn­te Se­li­na stur sein.
    „Was hast du mit dem schon zu re­den?“
    Dar­auf konn­te sie nichts ant­wor­ten, denn sie ver­stand selbst nicht, warum es so wich­tig für sie war. Doch nie­mand sprach über ih­ren Va­ter. Sein Na­me wur­de nie er­wähnt. Se­li­na wuß­te nicht ein­mal, wie er ge­hei­ßen hat­te, da Mrs. Bru­ce die Mut­ter ih­rer Mut­ter war und Se­li­na ih­ren Na­men an­ge­nom­men hat­te.
    Ein­mal, als sie aus ir­gend­ei­nem Grund wü­tend war, hat­te sie ganz of­fen ge­fragt: „Ich will wis­sen, wo mein Va­ter ist. Warum hab ich kei­nen? Al­le an­de­ren ha­ben einen.“
    Ih­re Groß­mut­ter hat­te - kühl, aber nicht un­freund­lich - ge­sagt, er sei tot.
    Se­li­na be­such­te re­gel­mä­ßig die Sonn­tags­schu­le. „Meinst du da­mit, er ist in den Him­mel
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