Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
den dazwischen arrangierten violetten Wildblumen. »Sie sind wunderschön. Vielen herzlichen Dank.«
    »Gern geschehen. Das Essen riecht herrlich.«
    »Es gibt nichts Besonderes«, erwiderte ich hastig. »Bloß Hühnchen. Sie mögen doch Hühnchen, oder?«
    »Ich mag alles. Wenn Sie mir etwas hinstellen, ist es in Sekundenschnelle verschwunden. Ich bin die schnellste Esserin der Welt.«
    Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie sie das Stück Preiselbeer-Kürbis-Kuchen verputzt hatte, den ich ihr am Nachmittag serviert hatte. War es erst ein paar Stunden her, dass wir uns getroffen hatten? Aus irgendeinem Grund kam es mir so vor, als würden wir uns bereits ein Leben lang kennen, als wären wir trotz des Altersunterschieds schon ewig befreundet. Ich musste mich daran erinnern, wie wenig ich eigentlich über sie wusste. »Also, erzählen Sie mir ein bisschen was von sich«, sagte ich beiläufig, während ich die Küchenschubladen nach einem Korkenzieher durchsuchte.
    »Da gibt’s nicht viel zu erzählen.« Sie ließ sich in einen der Korbstühle um den runden Glastisch in der Küche sinken, blieb jedoch aufrecht, beinahe wachsam sitzen, als hätte sie Angst, es sich zu bequem zu machen.
    »Woher kommen Sie?« Ich wollte sie nicht aushorchen. Ich war bloß neugierig, wie man auf eine neue Bekanntschaft eben neugierig ist. Doch ich spürte auch eine gewisse Zurückhaltung ihrerseits, über sich selbst zu sprechen. Vielleicht habe ich aber auch gar nichts gespürt. Vielleicht war der Smalltalk in der Küche an jenem Abend vor dem Essen
nicht mehr und nicht weniger als das: zwei Menschen, die sich langsam und behutsam kennen lernen, normale Fragen stellen, die Antworten nicht zu gründlich analysieren und ohne Plan und Hintergedanken von einem Thema zum nächsten springen.
    Zumindest ich hatte keine Hintergedanken.
    »Aus Chicago«, antwortete Alison.
    »Wirklich? Ich liebe Chicago. Woher denn genau?«
    »Aus einer Randgemeinde«, antwortete sie ausweichend. »Und Sie? Sie sind in Florida geboren?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind aus Baltimore hergezogen, als ich fünfzehn war. Mein Vater hatte beruflich mit Wasserschutz zu tun und dachte, Florida mit all seinen Wirbelstürmen und dergleichen wäre der perfekte Ort dafür.«
    Alison riss beunruhigt die Augen auf. »Keine Sorge. Die Wirbelsturm-Saison ist schon vorbei.« Ich lachte und fand ganz hinten in der Besteckschublade schließlich auch den Korkenzieher. »Das ist so eine Sache mit Florida«, sinnierte ich laut. »An der Oberfläche ist alles so schön und perfekt. Das reinste Paradies. Aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man den tödlichen Alligator, der unter der glatten Wasseroberfläche lauert, die giftige Schlange, die sich durchs smaragdgrüne Gras schlängelt, und man hört in den Blättern den fernen Wirbelsturm flüstern.«
    Alison lächelte mit einer Wärme, die den ganzen Raum füllte wie Dampf aus einem kochenden Kessel. »Ich könnte Ihnen den ganzen Abend zuhören.«
    Ich tat ihr Kompliment mit einer Handbewegung ab, als wollte ich mir frische Luft zufächern. Wie ich mich kenne, bin ich wahrscheinlich rot geworden.
    »Haben Sie schon einmal einen richtigen Hurrikan erlebt?« Alison beugte sich vor.
    »Mehrere.« Ich versuchte die Flasche Amarone zu öffnen, ohne den Korken abzubrechen. Es war lange her, seit ich das
letzte Mal eine Flasche Wein hatte öffnen müssen. Ich hatte selten Besuch und habe nie viel getrunken. Ein Glas Wein reicht, und in meinem Kopf dreht sich alles. »Der Hurrikan Andrew war natürlich der schlimmste. Das war ein echtes Spektakel. Wenn man so was von nahem erlebt, bekommt man wirklich Respekt vor Mutter Natur.«
    »Wie würden Sie ihn beschreiben?«, fragte sie und nahm damit unser Spiel vom Nachmittag wieder auf.
    »Erschreckend«, antwortete ich rasch. »Wild.« Ich machte eine Pause, drehte den Korkenzieher vorsichtig nach rechts und spürte, wie der Korken nachgab und langsam den Hals der dunkelgrünen Flasche hinaufglitt. Ich gebe zu, dass mich ein beinahe kindlicher Stolz überkam, als ich den besiegten Korken in die Luft reckte. »Grandios.«
    »Ich hole Gläser.« Alison war schon auf den Beinen und im Esszimmer, bevor ich ihr sagen konnte, wo die Gläser standen.
    »Sie sind im Schrank«, rief ich ihr unnötigerweise nach, weil es beinahe den Anschein hatte, als wüsste sie, wo sie nachsehen musste.
    »Gefunden.« Sie kehrte mit zwei langstieligen Kristallpokalen zurück, die sie mir nacheinander
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher