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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind
Autoren: Luanne Rice
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meint, dass er bei diesem Sturm richtig brettern kann. Mal sehen, ob er wieder auf die Planke kommt …«
    Die beiden Männer schwiegen, während sie im Cockpit saßen und angestrengt Ausschau hielten. Der Regen schlug ihnen in die Augen, die See rollte, und die Sicht war miserabel.
    Die
Endurance,
ein Eineinhalbmaster, ausgerüstet für Fahrten in den schwierigsten Seegebieten, war schon nach den Bermudas und Halifax gesegelt, hatte den Atlantik bei wesentlich schlimmeren Unwettern überquert. Die beiden Freunde waren erfahrene Segler, ein eingespieltes Team seit ihrer Jugendzeit; sie sahen keine Gefahr für sich selbst. Obwohl sie mit Leib und Seele dabei waren, wenn ein steifer Wind ging, waren sie jetzt beide hungrig und nur noch erpicht darauf, Newport zu erreichen.
    »Da war nichts«, sagte Crawford. »Ich bin mir sicher. Zu neunzig Prozent.«
    »Neunzig Prozent?«
    »Mist.«
    »Das kannst du laut sagen. Na, dann …«
    Die Männer wendeten, brachten die
Endurance
auf Kurs Südost, um der Sache auf den Grund zu gehen.
     
    »Halt durch, Allie!«, schrie Quinn, als eine weitere Welle über ihnen zusammenschlug.
    Sie erwischte sie mit voller Wucht am Kopf, füllte ihren Mund mit Salzwasser und versuchte, sie von dem gekenterten Boot wegzureißen. Allie war direkt neben ihr, klammerte sich gleichermaßen an Kimba wie an das Boot. Solange sie einander sehen und hören konnten, war alles in Ordnung. Doch als die Wellen Quinn unter Wasser drückten und sie nichts mehr sah, war sie einer Panik nahe.
    »Quinn, bist du noch da?«
    »Ja, ich bin hier.«
    Die Schwestern sprachen ununterbrochen miteinander. Das Boot war vor etwa zwanzig Minuten gekentert, schwamm kieloben. Obwohl das Meer im Sommer warm war, waren die Wellen zu hoch, um lange gegen sie anzukämpfen. Quinn stand Todesängste aus.
    Sie hatte die Angelkiste unter den linken Arm geklemmt. Die Wellen versuchten, sie ihr zu entreißen, aber sie ließ nicht los. Obwohl sie wusste, dass Geld keine Rolle spielte, hatte sie eine Aufgabe zu erfüllen, stellvertretend für ihre Eltern. Das Verhängnis hatte seinen Lauf genommen, weil sie die Schulden begleichen wollte, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihr Vorhaben scheitern könnte.
    »Lass die Kiste los!«, schrie Allie.
    »Nur wenn du Kimba loslässt.«
    Allie begann zu weinen, und Quinn hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Sie war zu sarkastisch. Es war eine Unart, und im Augenblick sah sie alle ihre Unarten deutlich vor sich. Ihre Ungeduld, ihre Dreistigkeit, ihre Boshaftigkeit. Ihre kleine Schwester trieb im offenen Meer und musste nun auch noch mit den Tränen kämpfen.
    »Ich habe es nicht so gemeint«, sagte Quinn.
    »Ich weiß. Du hast ihn ja gerettet.«
    »Warum weinst du dann?«
    »Weil ich Angst habe, dass wir sterben müssen.«
    Die nächste große Welle kam. Quinn klammerte sich an die Kiste und packte Allie. Sie zerrte ihre schluchzende Schwester zum Boot zurück, so dass sie unsanft gegen die Seite prallte. Sie wusste, dass sie an Ort und Stelle ausharren mussten. Das war Regel Nummer eins, die ihnen ihre Mutter jedes Mal eingebläut hatte, wenn sie mit ihnen segeln gegangen war:
Falls ihr jemals kentert, Mädels, bleibt beim Boot, was immer auch geschieht.
    »Nicht loslassen, Al!«, schärfte sie ihrer Schwester ein.
    »Ich bin so erschöpft, Quinn.«
    Die Wellen rollten mit voller Wucht heran, Quinn sah Sterne, und als sie das nächste Mal unterging, hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
Halt dich fest, Liebes. Lass das Boot nicht los, Quinn, auf keinen Fall.
    Mommy, bist du das?
    Ja, Quinnie. Halte durch. Lass die Kiste los. Lass sie fallen, jetzt gleich. Sag Allie, sie soll Kimba loslassen. Euch wird nichts geschehen, es wird alles gut, aber ihr braucht eure ganze Kraft.
    War das möglich? Quinn zitterte vor Freude. Sie hatte die Stimme ihrer Mutter gehört, hatte ihre Anwesenheit gespürt. »Halt dich gut fest, Allie. Irgendjemand wird kommen und uns retten. Erinnerst du dich an die Meerjungfrauen? Sie werden uns zu Hilfe eilen, Allie.«
    »Es gibt keine Meerjungfrauen.« Quinn sah Allie an. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Lippen waren blau. Die Kuppen ihrer Finger, mit denen sie Kimba und das Boot umklammerte, wirkten beinahe durchsichtig wie Fischflossen. Die Stimme ihrer Mutter fuhr fort:
Mach ihr Hoffnung, Liebes. Sag ihr, dass sie Kimba fallen lassen und sich mit beiden Händen festhalten soll. Du auch – mit beiden Händen, jetzt gleich!
    »Es gibt sie, Al. Sie werden
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