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Schicksal!

Schicksal!

Titel: Schicksal!
Autoren: S.G. Browne
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Fünfundzwanzigjähriger, der an einer Überdosis Heroin draufgegangen ist. »Es ist
Schicksal.
«
    Noch ehe ich mich in Richtung Toiletten davonschleichen kann, nimmt mich auch der Rest der Wartenden ins Visier.
    Ihr könnt es euch in etwa vorstellen.
    Denkt an etwas Unangenehmes.
    An etwas Unerfreuliches.
    Einen Fackeln schwingenden Mob.
    Sekunden später belagern mich Dutzende von menschlichen Seelen, die sich von ihrem Schicksal verraten fühlen. Sie erzählen mir, wie sehr sie ihre Qualen genossen haben, ihr Sterben und überhaupt ihre gescheiterten Existenzen. Finger zeigen auf mich. Zähne werden gefletscht, Speichel fliegt mir ins Gesicht. Männer, Frauen und Kinder beschimpfen mich, verteufeln mich und fluchen in mehr Sprachen, als selbst ich kenne.
    Meine Arbeit ist so befriedigend.
    »Schicksal«,
schaltet sich die Empfangsdame hinter ihrem Pult ein. »Jerry hat jetzt Zeit für dich.«
    Ich stehe auf und dränge mich durch den wilden Haufen wütender Seelen, die mir weiterhin Obszönitäten entgegenschreien. Selbst in Anbetracht all der Furcht, Verzweiflung und Unannehmlichkeiten, die sie während ihres Lebens durchmachen mussten, scheint es mir doch ein wenig übertrieben, wie sie hier Gift und Galle spucken. Als ich den Blick ein letztes Mal über die geifernde Meute gleiten lasse, entdecke ich
Feindseligkeit
in einer Ecke. Vor Lachen ist er bereits knallrot angelaufen.
    »Arschloch«, zische ich, während ich Jerrys Büro betrete.
    »Weißt du«, beginnt Jerry hinter seinem riesigen Eichenschreibtisch, »ich habe ganze Zivilisationen aus geringeren Anlässen ausgelöscht.«
    »Ich habe
Feindseligkeit
gemeint«, erwidere ich und schließe die Tür hinter mir.
    »Sitzt er immer noch da draußen?« Jerry sieht mich fragend an. »Ich dachte, ich hätte ihm klargemacht, dass er sich ein paar arme, unterdrückte Leute zum Aufwiegeln suchen soll.«
    »Na ja, in gewisser Weise tut er das auch: Er wiegelt alle in deinem Wartezimmer auf.«
    »Na dann. Solange er die Finger vom Mittleren Osten lässt …«
    Um es auf den Punkt zu bringen: Jerry ist allmächtig.
    Wobei er für eine alles wissende und alles könnende Gottheit ziemlich unscheinbar ist. Durchschnittliche Größe. Durchschnittliches Gewicht. Durchschnittliches Äußeres. Keine herausstechenden Merkmale. Bei seinen Kontrollbesuchen und Stippvisiten auf der Erde ist das natürlich ein klarer Vorteil. Er fügt sich ein und fällt nicht auf.
    Leider kommt er nicht mehr so oft raus wie früher. Und weil er die Dinge trotzdem im Auge behalten will, besteht sein Büro vollständig aus Glas: Fußboden und Zimmerdecke inklusive. Nicht gerade die sinnvollste Art, um sein Büro herzurichten, aber so hat er auch während der Arbeit alles genau im Blick. Alle anderen dagegen macht dieses Büro fertig. Ich meine: Wer würde sich nicht ein klein wenig eingeschüchtert fühlen, wenn er vor den großen Boss tritt, mitten in einem Rundumpanorama vom Universum steht und sich leise fragt, ob der gläserne Boden das eigene Gewicht wohl tragen wird?
    Ich war schon unzählige Male hier, und Jerry hat mir versichert, sein Büro wäre GS -geprüft. Höchster Arbeitssicherheitsstandard. Trotzdem ziehe ich auch jetzt lieber die Schuhe aus und lege den Weg bis zu seinem Schreibtisch auf Zehenspitzen zurück.
    »Also, weswegen wolltest du mich sehen?«, frage ich ihn und setze mich hin.
    Der Name, unter dem Jerry aus dem Alten Testament bekannt ist, lautet Jehova, aber niemand hier nennt ihn so. Auch nicht Gott oder Jahwe oder einen der unzähligen anderen Namen, den die Menschen ihm gegeben haben. So lange ich ihn kenne, war er immer schon Jerry.
    »Mir ist aufgefallen, dass du deine Arbeit in letzter Zeit ein wenig schlampig erledigst«, sagt Jerry. »Genau genommen seit Beginn der industriellen Revolution.«
    Das war vor über zwei Jahrhunderten. Mit der Abarbeitung des Papierkrams in seinem Eingangsordner scheint er ziemlich im Rückstand sein.
    Ich schlucke die Kritik und seufze stumm. Jerry hat gut reden. Früher, zu Zeiten der Agrargesellschaften, ließen die Menschen sich nicht so leicht von ihrem Pfad abbringen. Selbst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts lag die Erfolgsquote der Menschen auf dem Pfad des Schicksals nur knapp unter zweiundsechzig Prozent: Sechs von zehn erfüllten also ihr optimales Schicksal. Mittlerweile ist meine Rate allerdings auf unter drei von zehn gefallen. Kein Wunder bei dem konstanten Werbe-Bombardement und den Heerscharen von Prominenten und
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