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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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Forschungsinstituts für die Kunstharzbranche auf. In einem Haushalt, der vom Ethos der technischen Intelligenzija geprägt war, wurden alle Kinder dazu erzogen, Ingenieurwesen oder Naturwissenschaften zu studieren: Jara besuchte das Moskauer Maschinenbauinstitut, Tanja widmete sich der Meteorologie, und Sweta immatrikulierte sich an der Physikalischen Fakultät.
    Alexander hieß Lew bei sich willkommen, denn er freute sich über die Anwesenheit eines weiteren Wissenschaftlers. Swetas Mutter dagegen war kühler und reservierter. Anastasia Jerofejewna – eine rundliche, schwerfällige Frau von Mitte fünfzig, die Handschuhe trug, um eine Hautkrankheit zu verbergen – arbeitete als Russischlehrerin am Moskauer Wirtschaftsinstitut und legte das strenge Benehmen einer Pädagogin an den Tag. Oft kniff sie dieAugen zusammen und musterte Lew durch ihre dickrandige Brille. Sie machte ihm lange Angst, doch eine Begebenheit gegen Ende des ersten Universitätsjahres sollte alles ändern. Sweta hatte sich Lews Aufzeichnungen einer Vorlesung, die sie verpasst hatte, geborgt. Als er die Notizen vor der ersten Prüfung abholte, ließ Anastasia ihn wissen, dass sie seine Zusammenfassung für sehr gut hielt. Es war nicht viel, nur ein kleines, unerwartetes Kompliment, aber die Sanftheit ihrer Stimme machte Lew deutlich, dass ihn Anastasia, die Hüterin von Swetas Familie, akzeptiert hatte. »Ich betrachtete es als eine Art Passierschein«, erinnerte er sich, »und besuchte die Wohnung nun häufiger, ohne mich eingeschüchtert zu fühlen.« Nach den Prüfungen im langen, heißen Sommer 1936 holte Lew Sweta jeden Abend ab und brachte ihr im Sokolniki-Park das Radfahren bei.
    Für Lew war die Anerkennung durch Swetas Familie stets ein wichtiger Teil der Beziehung, zumal er selbst keine direkten Angehörigen hatte. Lew wurde am 21. Januar 1917 in Moskau geboren – Tage vor dem Aufruhr der Februarrevolution, welche die Welt für immer veränderte. Seine Mutter Valentina Alexejewna, die Tochter eines kleinen Provinzbeamten, war, nachdem sie beide Eltern in jungen Jahren verloren hatte, von zwei Tanten in Moskau aufgezogen worden. Sie war Lehrerin an einer der städtischen Schulen, als sie Lews Vater Gleb Fjodorowitsch Mischtschenko kennenlernte, einen Absolventen der Physikalischen Fakultät der Universität Moskau, der damals ein Ingenieurstudium am Eisenbahn-Institut hinter sich brachte. Mischtschenko ist ein ukrainischer Name. Glebs Vater Fjodor, Professor für Philologie an der Universität Kiew und Übersetzer altgriechischer Texte ins Russische, hatte sich in der nationalistischen ukrainischen Intelligenzija hervorgetan. Nach der Oktoberrevolution waren Lews Eltern in den sibirischen Ort Berjosowo in der Tobolsker Region gezogen. Gleb kannte das Städtchen aus Vermessungsexpeditionen, an denen er als Eisenbahningenieur teilgenommen hatte. Berjosowo, das seit dem 18. Jahrhundert als Verbannungsort diente, war weit vom bolschewistischen Regime entfernt und lag in einem relativ wohlhabenden Agrargebiet, weshalb es sich anbot, dort den Bürgerkrieg (1917–1921) auszusitzen,durch den Moskau von Terror und wirtschaftlichem Ruin heimgesucht wurde. Die Mischtschenkos wohnten zusammen mit Valentinas Tante in einem gemieteten Zimmer im Haus einer großen Bauernfamilie. Gleb fand einen Posten als Lehrer und Meteorologe, Valentina arbeitete ebenfalls in einer Schule, und Lew wurde von ihrer Tante Lidia Konstantinowna aufgezogen, die er »Großmutter« nannte. Sie erzählte ihm Märchen und brachte ihm das Vaterunser bei, an das er sich sein ganzes Leben lang erinnerte.
    Im Herbst 1919 trafen die Bolschewiki in Berjosowo ein. Sie nahmen »bourgeoise« Geiseln, die angeblich mit den »Weißen« kollaboriert hatten, das heißt mit den konterrevolutionären Kräften, von denen die Region während des Bürgerkriegs besetzt worden war. Eines Tages verhaftete man Lews Eltern, und der Vierjährige besuchte sie zusammen mit seiner Großmutter im Ortsgefängnis. Gleb war in einer großen Zelle mit neun anderen Häftlingen untergebracht. Lew durfte die Zelle betreten und sich zu seinem Vater setzen, während der Aufseher mit seinem Gewehr an der Tür Wache stand. »Ist der Onkel Jäger?«, fragte Lew seinen Vater. Dieser antwortete: »Der Onkel beschützt uns.« Lews Mutter fanden sie in einer Isolierzelle, wo er sie zweimal besuchte. Beim letzten Mal gab sie ihm eine Schüssel saurer Sahne und Zucker, die sie von ihrem Häftlingstaschengeld gekauft
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