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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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Vorschullehrer erwies sich als Cousin eines berühmten ukrainischen Komponisten und Lews Russischlehrerin als Verwandte des Schriftstellers Michail Bulgakow. In den frühen dreißiger Jahren allerdings, als Lew Teenager war, führte die Schule einen polytechnischen Lehrplan mit Schwerpunkt auf dem für Moskauer Fabriken nützlichen Ingenieurwesen ein. Facharbeiter hielten Vorlesungen an der Schule, gaben praktischen Unterricht und veranstalteten Experimente, um die Kinder auf eine Fabriklehre vorzubereiten.
    Swetas Schule in der Wusowski-Gasse war nicht weit von der Lews entfernt. Wie hätten sie einander eingeschätzt, wenn sie sich damals begegnet wären? Sie kamen aus sehr unterschiedlichen Kreisen: Lew aus der alten Welt der Moskauer Mittelschicht, in der die orthodoxen Werte seiner Großmutter seine Erziehung geprägt hatten, und Sweta aus der fortschrittlicheren Welt der technischen Intelligenzija. Gleichwohl hatten sie viele Grundwerte und Interessen gemeinsam. Beide waren ihrem Alter voraus, ernst, klug, unabhängige Denker mit einem offenen und forschenden Geist, der eher durch ihre eigene Erfahrung als durch Propaganda oder gesellschaftliche Konventionen geformt wurde. Diese Unabhängigkeit sollte ihnen zustattenkommen. In einem Brief von 1949 beschrieb Sweta ihre Persönlichkeit mit elf Jahren – zu einer Zeit, als die Kampagne gegen die Religion in sowjetischen Schulen ihren Höhepunkt erreicht hatte:
     
Mir scheint, dass ich erwachsener war als die anderen Kinder in meiner Schule … Damals machte ich mir große Sorgen über Gott und die Religion. Unsere Nachbarn waren gläubig, und Jara hänselte ihre Kinder. Aber ich mischte mich ein und sprach mich für die Religionsfreiheit aus. Und ich löste das Problem, das ich mit Gott hatte, aus eigener Kraft: Ich gelangte zu dem Schluss, dass wir die Ewigkeit und die Schöpfung mit ihm oder ohne ihn nicht verstehen können und dass er, da er zwecklos ist, nicht benötigt wird (jedenfalls nicht von mir, obwohl andere, die an ihn glauben, ihn vielleicht benötigen).
     
    Sowohl Lew als auch Sweta waren in jenem Alter gewissenhafte Vertreter eines Ethos der schweren Arbeit und der Verantwortlichkeit. In Swetas Fall war dies das Ergebnis ihrer strengen Erziehung in der Familie Iwanow, wo sie sich um ihre jüngere Schwester Tanja und um viele Haushaltspflichten kümmern musste, während Lew durch seine wirtschaftlichen Umstände zu einer solchen Haltung genötigt wurde. Er musste während seiner Schulzeit arbeiten, um etwas zu der kleinen Rente seiner Großmutter hinzuzuverdienen.
    1932 , mit erst fünfzehn Jahren, machte Lew Nachtschichten beim Bau der ersten Moskauer Metro-Linie zwischen Gorki-Park und Sokolniki. Er vermaß die Strecke über die Straßen hinweg und schloss sich den Erdarbeiterteams an, die überwiegend aus zugewanderten Bauern bestanden. Diese strömten damals nach Moskau, um nicht von den Bolschewiki zur Mitwirkung in den Kolchosen gezwungen zu werden. Lew wurde sich der schrecklichen Auswirkungen der Kollektivierung im folgenden Sommer bewusst. Als Helfer auf einem Kaninchenzuchthof lernte er einen Kollegen kennen, der aus den Hungersnot leidenden ukrainischen Landgebieten eingetroffen war. Der Mann schrieb traurige Gedichte über »verlassene Dorfgebäude, sterbende Menschen und hinter einem Zaun aufgehäufte Leichen«. Lew wurde von der emotionalen Kraft der Gedichte angerührt, von der drastisch wirkenden Thematik aber abgestoßen. »Warum erfindest du so grässliche Szenen?«, fragte er den Ukrainer. Dieser antwortete: »Ich habe sie nicht erfunden. Das ist mein Dorf. Dort herrscht Hungersnot, und niemand hat die Kraft, die Gestorbenen zu begraben.« Lew war schockiert. Er hatte die Sowjetmacht und ihre politischen Methoden vorher nie in Frage gestellt, sondern sich vielmehr dem Komsomol, dem Kommunistischen Jugendverband, angeschlossen und immer an die Partei geglaubt. Nun jedoch keimten Zweifel in ihm auf. Später im selben Jahr besichtigte er eine Kolchose bei Moskau. Der Schulausflug wurde von seinem Biologielehrer organisiert, einem überzeugten Bolschewiken, der eines der verlassenen Häuser auf dem Bauernhof nutzte, um ein Theaterstück über den »Kampf gegen Ungeziefer« (das heißt gegen vermeintliche Regimefeinde) zu inszenieren. Das Haus hatte dem Dorfpriester und dessen Familie gehört, die offensichtlich während der Kollektivierung des Dorfes vertrieben worden waren. Im Innern des Gebäudes stießen die Schüler auf die
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