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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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wusste, worauf er anspielte. Kinder. Mit einem anderen Mann. Einem normalen Mann, der solche Dinge nicht tat. Das meinte Colin.
    »Genau, später. Nicht jetzt«, stellte ich klar. Was immer auch später sein mochte - in einer Sekunde, einer Stunde, einem Jahr: Jetzt zählte es nicht. Ich saß bei ihm, ich fürchtete mich nicht mehr vor ihm, ich verstand, was er getan hatte und warum es hatte geschehen müssen, und nach wie vor durchbrauste mich das Gefühl, dass alles gut werden würde - der Nachhall meiner zurückerlangten Erinnerung, der die Schmerzen in meinem Bauch wie wärmende Medizin umhüllte. Colins schöne Berührungen mussten die schlechten besiegen.
    »Doch eines passt immer noch nicht zusammen. Der Traum mit Grischa - warum? Warum hatte ich dieses sichere Gefühl, dass er meine Hilfe brauchte? Wieso war er mir plötzlich wieder so nah, ganz kurz vor dem Kampf?«
    Colins Hand spannte sich an, doch er ließ sie auf meinem Nabel ruhen. Über uns begann ein Specht mit unüberhörbarem Fleiß den Stamm des Baumes zu bearbeiten.
    »Ich habe dir keinen Grischa-Traum geschickt«, sagte Colin nach einer kleinen Pause. »Ich weiß es nicht, Ellie. Ich dachte, das Thema sei mit Paul erledigt, aber das ist es wohl nicht. Ich bin nicht eifersüchtig - ich wundere mich nur.«
    »Ich mich auch«, sagte ich mit einer Hoffnungslosigkeit, die mir selbst fremd vorkam. Denn sie war unpassend. »Du kennst meine Seele doch wie deine Westentasche. Warum ist er da?« Ich zog an seinem verwaschenen Hemdkragen. Die ausgefransten Knopflöcher gaben sofort nach, sodass ich meine Wange an seine nackte, kühle Brust betten konnte.
    »Oh Ellie.« Colin lachte leise und seine Hand wanderte ein Stück nach unten, um sich in den Bund meiner Jeans zu schieben. Nicht gut zum Denken. »Du trägst zu enge Hosen. Ich kenne deine Seele nicht wie meine Westentasche - jedenfalls nicht die Ursache jener Wunden, die andere vor meiner Zeit verursacht haben. Ich kannte dich damals noch nicht. Vielleicht hat er dich so tief beeindruckt, dass deine Gefühlserinnerung alles, was mit ihm zu tun hat, für immer abgespeichert hat.«
    Ja, so empfand ich es, wenn ich von ihm träumte. Sobald ich aufwachte, war es, als hätte ich ihn gestern erst zum letzten Mal gesehen. Colins Angebot, mir diese Träume zu stehlen, stand garantiert nicht mehr. Ich musste alleine damit klarkommen.
    »Erst quälst du mich, dann fummelst du an mir herum. Das geht nicht, Colin«, seufzte ich träge, denn seine Hand hatte sich auf wundersam geschickte Weise weiter abwärts bis unter meinen Slip gearbeitet und einigen sehr delikaten Stellen genähert. Doch sie fummelte gar nicht. Sie lag nur da. Empörend nah und deutlich. Unüberspürbar sozusagen.
    »Ich weiß«, murmelte er. »Es geht nicht. Nicht jetzt.«
    »Warum eigentlich nicht? Ich glaube sogar, es geht nur jetzt«, flüsterte ich und drehte meinen Kopf, um das kleine Stück nackte Brust zu küssen, das ich vorhin freigelegt hatte. Nun wusste ich den Nutzen seiner fehlenden Hemdknöpfe zu schätzen. Und seine Hand bewegte sich doch. Ich keuchte leise auf. Der Specht über uns klackerte beflissen Beifall.
    »Du hast sie vergessen, Lassie. Diesmal hast du sie vergessen, nicht ich.«
    Nein, das hatte ich nicht. Ich sah nur nicht ein zu verzichten. Nicht in diesem Moment. Außerdem waren wir nicht glücklich. Nein, wir waren nicht glücklich. Doch wir waren zusammen, friedvoll, und für den Augenblick war das mehr, als ich vor einigen Stunden noch erhofft hatte.
    Als unsere Lippen sich wieder voneinander lösten, hatte der Himmel sich verdunkelt. Geckernd floh der Specht von seinem Stamm. Eine fette graue Kellerassel krabbelte über Colins Hosenbein und versuchte, auf meine nackte Brust zu gelangen. Der kalte Wind, der aus dem Nichts heraus die Äste über unseren Köpfen schüttelte und Kiefernnadeln auf unsere Haare regnen ließ, schickte nicht nur mir einen frostigen Schauer, sondern auch Colin. Urplötzlich roch es nach Herbst und verrottendem Laub.
    Ich sah ihm in die Augen und wusste es. Sie hatte ihn gewittert, schneller als je zuvor. Sie war bereits unterwegs - das alte, hässliche Spiel.
    Colin nahm seine Hand nicht fort, als er mich dicht an sich zog und das letzte Mal von Kopf bis Fuß erschütterte.
    »Ich liebe dich immer noch, Colin. So schnell kriegst du mich nicht tot.«
    »Dann fahr mich zum Meer.«

Strandgut
    Auf dem Weg nach Polen - der kürzesten Strecke von der Oberlausitz zum Meer - gab es keinen
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