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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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Sonne ...« Sie stieg. Ihre gleißenden Strahlen ließen Colins Iris jadegrün glitzern und mich rasant ermatten. Aber ich durfte nicht schlafen. Ich musste wissen, was passiert war und ob Colin das Böse in sich noch in seiner Gewalt hatte oder nicht. Er führte mich in einen dichten Kiefernwald hinein, in dem die Bäume so eng beieinanderstanden, dass auch dann noch Zwielicht herrschen würde, wenn die Sonne den Zenit erreicht hatte. Sofort verblassten die Sprenkel auf seiner weißen Haut.
    Als ich mich ihm gegenüber an einen knorrigen Stamm lehnte und die Beine lang ausstreckte, wurde ich wieder munterer. Mein Verstand arbeitete nun geschmeidiger und nicht mehr so überfallartig. Meine Gedanken fanden zu ihrer einstigen Klarheit zurück, die ich schon seit Wochen schmerzlich vermisst hatte. Außerdem war ich von einem kaum spürbaren, aber beständigen Rauschgefühl ergriffen, seitdem Colin mir meine Erinnerung zurückgegeben hatte. Es war die Geborgenheit, die Papa ausgestrahlt hatte. Alles würde gut werden. Alles. Auch jetzt.
    Colin setzte sich im Schneidersitz auf den weichen Boden und verschränkte seine langen Finger. »Hat es denn einen Sinn, dass ich es dir erzähle? Könnte ich es damit überhaupt wiedergutmachen? Antworte nicht zu schnell. Nimm dir die Zeit, die du brauchst.«
    Sein Tritt in meinen Bauch war menschenverachtend gewesen. Dass er dabei zugesehen hatte, wie ich mich übergab, erst recht. Mich durch das schmutzige Fleet zu treiben, mir die Luft abzuschnüren, all das herbeizurufen, wovor ich mich seit Monaten fürchtete ...
    »Wenn ich es verstehe, kann ich es vielleicht auch verzeihen«, sagte ich dennoch.
    »Ach, Lassie ... wenn Gefühle der Logik gehorchen würden, würde es uns Mahre womöglich gar nicht geben. Deine Seele wird das alles nicht so schnell vergessen, und wenn du es noch so sehr versuchst. Deshalb ist es vielleicht leichter für dich, wenn du glaubst, es wäre aus Boshaftigkeit geschehen.«
    »Toll. Da hab ich aber was von. Warum hast du die anderen das alles überhaupt sehen lassen? Gut, damit Paul François’ wahre Natur erblickt wahrscheinlich, danke schön, aber hättest du es nicht so drehen können, dass er wenigstens nicht mitbekommt, was du mit mir anstellst? Jetzt redet er mir ständig ins Gewissen, ich solle mich von dir trennen ... «
    »Eben deshalb, Ellie. Deshalb habe ich das getan. Sie sollten sehen, wie ich bin. Wie ich sein kann.«
    »Aber sie wissen nicht, warum! Das Warum ist doch immer das Entscheidende. Und ich will dieses Warum erfahren.« Colin schüttelte den Kopf, doch ich sprach hektisch weiter. »Ich möchte mit dir darüber reden! Bleib hier, bitte. Rede mit mir.« Ich atmete schneller, weil die Angst, ihn jetzt wieder und für immer gehen lassen zu müssen, ja, mich mit der faden Begründung, er sei eben bösartig, zufriedengeben zu müssen, meine Verletzungen und meinen Schock zu Nebensächlichkeiten herabwürdigte.
    »Ich bin da. Frag, was du fragen möchtest.« Colin wartete wortlos, bis mein Atem wieder gleichmäßiger geworden war.
    »Wieso hast du dich mit François verbündet und dich im letzten Moment gegen ihn entschieden?« Wieder hörte ich mich aggressiv und feindselig an. Es war nicht zu verhindern.
    »Ich habe mich nicht mit ihm verbündet«, antwortete Colin ruhig. »Ich habe ihn getäuscht, ebenso wie ich dich getäuscht habe.«
    »Zu welchem Zweck?«, brauste ich auf. »Du hast mir solche Angst eingejagt!«
    »Genau.« Colin hob seine Lider und sah mir tief in die Augen. »Angst, Wut, Zorn, Misstrauen. Deine stärksten Emotionen. Sie waren meine Waffe. Ich habe sie angefacht.«
    Ich fühlte mich wie paralysiert. Meine negativen Gefühle angefacht? Wozu? Sie konnten ihn doch nicht ernähren! Mahre lebten von schönen, sehnsüchtigen Gefühlen. Die machten sie stark. Colin hatte also meine schlechten Gefühle hervorgerufen, sie aufgeputscht und dann ... Moment, die Szene im Fleet. Diese seltsame Art von Befall. Er hatte mir die negativen Gefühle herausgesaugt, um sie anschließend ...?
    »Du hast ihn vergiftet«, sprach ich das Ende meiner Gedankenkette laut aus. »Du hast François vergiftet! Nicht umgekehrt. Mit meinen Gefühlen!«
    »Ich hätte nicht in einem normalen Kampf gegen ihn siegen können. Ich ahnte das. Ich musste mir eine List ausdenken.« Colin musterte seine Hände. Die Nägel waren zerfetzt. Er hatte sie sich von den Wölfen abbeißen lassen. Doch die Wunden an seinen Fingerkuppen verheilten bereits. »Um
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