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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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überragende Doppeldeckerbus hinter ihr zu hupen begann. »Schon gut. Schon gut.«
    Gedanken an ihre Mutter hatten stets diese Wirkung auf Charlotte. Sie machten sie nervös und fahrig, lösten grundlos Schuldgefühle aus. Sie fühlte sich gewissermaßen für das Glück ihrer Mutter verantwortlich und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie dies als Bürde empfand. Sie war wütend auf sich, weil sie Anne noch immer so sehr liebte, stets versuchte, die pflichtbewusste, treu sorgende Tochter zu sein. Immerhin hatte ihre Mutter kein einziges Mal gesagt, dass sie ihre Tochter liebe. Das war nicht ihre Art. Stattdessen schien sie permanent enttäuscht zu sein: von Charlotte, von sich selbst, vom Leben mit all seinen Frustrationen.
    In Charlottes Elternhaus hatte es nie Zärtlichkeiten gegeben oder harmlose Diskussionen beim Abendessen oder gar die temperamentvollen Tumulte, die in großbürgerlichen oder adeligen Familien vorkamen, von denen sie in Romanen vergangener Zeiten las. Stattdessen hatte es unausgesprochene Dissonanzen gegeben, hatte permanent und unausgesprochen eine Atmosphäre geherrscht, die von erlittenen Kränkungen und unterdrückter Wut gezeichnet war.
    Beim Abendessen war es am schlimmsten. Sie saßen an dem Küchentisch aus Kiefernholz, aufrecht und angespannt. Ihr Vater ergriff stets als Erster das Wort, gab seine Kommentare ab, begleitet vom rhythmischen Knacken seines Kiefers beim Kauen. Was er sagte, war dabei weniger das Problem als die Art und Weise, wie er es sagte. Es begann mit einer neutralen Bemerkung, die sich normalerweise an ihre Mutter richtete.
    »Wieder mal ein neues Top, wie ich sehe.«
    Es folgte stets eine Pause, elektrisch aufgeladen von der hohen Wahrscheinlichkeit bevorstehenden Unheils. Ihre Mutter sah dann demonstrativ an sich herunter, wie um sich zu vergewissern, was sie anhatte, bevor sie sich in gekünstelte Ungezwungenheit flüchtete.
    »Ach das, meinst du? Ja, das habe ich neulich gekauft …« Sie verstummte angesichts seines starren, strafenden Blickes.
    »Wie … verschwenderisch«, bemerkte er, und jedes seiner Worte fiel wie ein Tropfen Säure von der Pipette eines Chemikers.
    »Nicht wirklich«, wappnete sich ihre Mutter ruhig. »War ein Sonderangebot.«
    »Ah, verstehe.« Er grunzte trocken und wischte sich die Mundwinkel mit dem Zipfel der Serviette. »Du sparst mein Geld. Dafür muss ich wohl dankbar sein.«
    Manchmal war die Angelegenheit damit erledigt. Manchmal trieb es ihr Vater solange weiter, bis ihre Mutter vom Tisch aufstand, ihren Stuhl so abrupt zurückschob, dass er mit schrillem Quietschen über den Fliesenboden schlidderte. Und immer war Charlotte gezwungen, schweigend bei Tisch auszuharren, bis der Vater die Mahlzeit beendet hatte.
    War der Abendbrottisch abgeräumt, gab es kein Fernsehen. Abgesehen von den Nachrichten schien jedes andere Programm ihren Vater zu ärgern, seine Laune derart zu verschlechtern, dass die Luft in den Räumen knapp zu werden, durch sämtliche Fugen in den Wänden zu entweichen drohte. Er erhob nie die Stimme, doch die unterdrückte Wut, die sich in seinen kontrollierten Atemzügen ausdrückte, war schlimmer als alles andere.
    Die Spannung war dann so unerträglich, der Drang bei Charlotte, sich für alles zu entschuldigen, was sie im Fernsehen sah, so übermächtig, dass jede Sendung zur Qual wurde.
    Ungestraft fernsehen konnte sie nur, solange ihr Vater noch bei der Arbeit war, in jener goldenen Zeitspanne von zwei Stunden, in der sie sich nach der Schule auf einem Kissensack im Wohnzimmer mit einem Stück Battenbergkuchen in der Hand dem ungestörten Genuss einer Folge von Grange Hill oder Blue Peter hingab. Ihr Gehör war sorgfältig auf das Motorengeräusch des väterlichen Autos getuned. Sobald sie das erste dunkle Dröhnen seines BMWs hörte, sprang sie auf, machte den Fernseher aus und sprintete nach oben, schloss die Tür zu ihrem Zimmer und schlug ihre Schulbücher auf, damit sie nicht mit ihm reden musste.
    Gelegentlich klopfte er auf dem Weg nach oben an ihre Tür.
    »Charlotte?« Er wartete, bis sie antwortete, bevor er die Tür aufstieß, ohne jedoch die schmale Metallleiste zu überschreiten, die den dunkelroten Flurteppich von dem hellbeigen Teppichboden ihres Zimmers trennte. Es war stets beklemmend, wie er dort stand, einem Gefängniswärter gleich, und schweigend seine Blick über das gleiten ließ, womit sie beschäftigt war.
    »Viel zu tun?«, fragte er.
    »Geht so«, antwortete Charlotte einsilbig,
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