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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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wusste nicht, was sie sonst sagen sollte, und lächelte so unverbindlich wie möglich. Er stand auf der Schwelle, sah sie einige Augenblicke schweigend an, lockerte dabei mit einer Hand seine Krawatte.
    »Gut«, bemerkte er. Er trat von einem Bein auf das andere, als zögere er die Schwelle zu überschreiten, sich ihr zu nähern. Sie sah es und straffte unwillkürlich mit steifem Rücken die Schultern. Es war eine kaum merkliche Bewegung, und doch registrierte er sie, wandte sich umgehend ab, zog sich in den Flur zurück und ging mit langen Schritten in Richtung Badezimmer. Minuten später hörte sie, wie der Wasserhahn aufgedreht wurde.
    Charlotte hatte keine Ahnung, ob es normal war, wie es in ihrer Familie zuging. Sie hatte keine Freunde, denen sie sich anvertrauen konnte. Sie war ein sehr einsames Kind, hatte Angst vor Gleichaltrigen, und ihr graute vor allem, was neu war. Ohne Geschwister war sie im Umgang mit anderen Kindern unsicher. Nichts hasste sie mehr, als ihrer Mutter zuliebe auf eine Party gehen zu müssen, weil »die Tochter von Soundso auch dort sein wird, und sie ist im gleichen Alter wie du«. Ganz zu schweigen von den horrormäßigen Dinnerpartys, bei denen ihre Eltern mit den Erwachsenen um einen Tisch saßen und von sämtlichen Kindern erwartet wurde, dass sie sich um einen wackeligen Campingtisch mit Partyservietten und Papierkronen versammelten. »Da haben die Kleinen doch viel mehr Spaß, oder?«, sagte dann die Gastgeberin mit routiniertem Lächeln, während alle wussten, dass der einzige Grund für die Inszenierung für die Kinder der war, dass sich die Erwachsenen nicht um sie kümmern mussten.
    Und Spaß machte es schon gar nicht, dachte Charlotte. Gemeinhin fand sie, dass die meisten Kinder sie mit unverhohlenem Misstrauen betrachteten, welches bald in extreme gegenseitige Abneigung umschlug. Das Schlimmste war, wenn sie zwangsweise in eine Mädchengruppe geriet, in der die anderen allesamt untereinander längst die besten Freundinnen waren. Sie rotteten sich entweder gegen sie zusammen und flüsterten hinter ihrem Rücken über sie, oder, wenn sie versuchte, zu einer von ihnen freundlich zu sein, warf man ihr vor, einen Keil zwischen die Freundinnen treiben zu wollen. Nie schien sie die richtigen Klamotten anzuhaben oder die richtigen Dinge zu tun. Einmal, als sie zugab, nie Chitty Chitty Bang Bang gesehen zu haben, hatte ein Mädchen mit krausem blondem Haar namens Kitty und glänzenden Lippen sie als »sonderbar« bezeichnet, das damals als Makel der schlimmsten Art galt.
    Charlotte dagegen gefiel sich in ihrer ›Splendid Isolation‹. Zuhause verbrachte sie viele Stunden mit einem Buch im Schuppen am Ende des Gartens, eingekeilt zwischen alten Liegestühlen und nach Schmieröl riechenden Ersatzteilen für den Rasenmäher. Dieser Schuppen war ihr liebster Zufluchtsort. Manchmal, wenn die Stimmung im Haus kaum noch zu ertragen war, zog sie sich dorthin zurück und stellte sich vor, sie sei von zu Hause weggelaufen. Dann saß sie stundenlang zwischen zwei Kohlesäcken und fragte sich, ob ihre Abwesenheit überhaupt bemerkt werden würde. Wenn die kalte Nachtluft durch die Ritzen der Holzwände eindrang und der Fußboden schließlich zu hart wurde, war sie gezwungen, wieder ins Haus zurückzukehren, wo die Eltern ihre Abwesenheit mit keinem Wort hinterfragten. Und genau das – die Tatsache, dass sie sich keine Sorgen um sie gemacht hatten – traf sie härter als die Trostlosigkeit, die sie in den Schuppen getrieben hatte.
    »Mach Platz, verdammter Idiot!«, schrie sie, als ein Moped vor ihr mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Sie riss das Steuer gerade noch rechtzeitig herum und sah die vertraute Silhouette des London Bridge Hospital am Ende der Straße zu ihrer Linken. Als sie den Winker betätigte, fiel ihr ein, dass das linke Blinklicht nicht funktionierte, sie immer wieder vergessen hatte, es reparieren zu lassen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, in solchen Fällen bei geöffnetem Fenster mit der Hand ein Abbiegen zu signalisieren, aber das erschien ihr peinlich, so dass sie einfach ohne ein Zeichen abbog, als sich eine Lücke im Verkehr auftat.
    Beim Gedanken an Charles fröstelte sie unwillkürlich.
    Auf dem Krankenhausparkplatz, wo trotz der exzessiv hohen Parkgebühren kaum je ein freier Parkplatz zu finden war, stellte sich das altbekannte Unbehagen wieder ein. Charlotte hasste Krankenhäuser: den Geruch nach Desinfektionsmitteln und Chirurgenhandschuhen, das quietschende
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