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Schau mir ins Herz

Schau mir ins Herz

Titel: Schau mir ins Herz
Autoren: Daphne Hope
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1. KAPITEL
    Wäre es Carol an jenem Tag zu heiß gewesen oder hätte ihre Neugier sie nicht bewogen, den steilen Weg hinaufzuwandern, auf dem man zur Grotte der Kalypso gelangte, würde dieses Buch auf der ersten Seite enden.
    Der Strand schimmerte golden, hätte es begonnen. Die drei Urlauber lagen dösend in der Maisonne, bis es Zeit war, eine letzte Runde zu schwimmen. Am nächsten Tag war ihr Mittelmeerurlaub vorüber, und sie würden nach Hause fahren.
    Aber da Carol sich eher rastlos und unternehmungslustig fühlte als träge und faul, brach sie auf. Der Weg schien nach ihr zu rufen, sie gleichsam zu sich zu locken, beinahe so, als würde er wollen, dass sie ihm folgte und ihn erkundete. So, als hüte er ein Geheimnis oder hielte ein ganz eigenes Glücksversprechen bereit.
    Je weiter sie auf ihrem Weg vorankam, desto mehr hatte Carol den Eindruck, selbst zu einem Teil der Landschaft zu werden. Ein Gefühl vollkommenen Friedens erfüllte sie. Die breiten, flachen Steine, mit denen man den Weg gepflastert hatte, waren von Wind und Wetter geglättet. In den unregelmäßigen Ritzen dazwischen blühten Wildblumen – blaue, gelbe und purpurrote. Sie leuchteten in so lebhaften, fröhlichen Farben, dass Carol stehen blieb, um den Anblick in sich aufzunehmen.
    Es war still bis auf das Summen der Bienen, die über den Kleeblüten schwebten, oder das gelegentliche Rascheln des Windes in den fedrigen Grasbüscheln und das entfernte Geräusch heranrollender Wellen auf dem Sand.
    Sie gönnte sich einen Augenblick Zeit, um zu Atem zu kommen, und drehte sich um. Unter ihr lag der goldene Bogen des Strandes. Mit dem geübten Auge der Designerin nahm Carol die Umrisse der Felsen im tiefblauen Wasser wahr. Sie machte sich eine geistige Skizze der Silhouetten, die zauberhaft zur Geltung kommen würden in einer neuen Kollektion von Seidendrucken.
    Lächelnd hob sie die Hand und winkte den beiden Sonnenanbetern zu, die dort unten lagen und so klein aussahen, dass sie wie Gestalten wirkten, die man durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernglas betrachtete. Sogar John, ihr Bruder, der starke, ein wenig ungelenke John, erschien von hier aus nicht größer als eine Action-Man-Puppe.
    Sie lagen auf dem Bauch und sonnten sich. Die beiden hatten nicht mitkommen wollen.
    „Zu heiß“, hatte John rundheraus abgelehnt. „Und viel zu anstrengend.“
    „Es ist doch unser letzter Tag“, hatte Rosie ihn unterstützt. „Die letzte Möglichkeit, Sonne zu tanken, bevor wir nach Hause müssen. Warum bleibst du nicht auch hier, Carol, und entspannst dich ein bisschen? Du hast so lange über diesen dämlichen Zeichnungen gebrütet, und es würde dir guttun, einfach nur in der Sonne zu liegen und zu faulenzen.“
    Aber Carol hatte gelacht und erklärt, Rosie könne das viel besser als sie und solle sich für sie beide entspannen. Sie wolle herausfinden, wo der Weg hinführte.
    „Auf den Berg“, hatte John gebrummelt. „Und wenn du es genau wissen willst, brauchst du nicht mal hinaufzuklettern.“ Aus dem Reiseführer hatte er zitiert: „Die Bucht von Ramla. Nicht nur liefert der Sand dort einen Bestandteil von erstklassigem Zement …“
    Rosie hatte ihm das Buch aus der Hand gerissen. „John, du bist ein hoffnungsloser Fall, wirklich. Wenn man dir etwas von Rosen und Mondschein erzählt, erklärst du einem, wie man einen Komposthaufen anlegt. Ah ja, da ist es, unglaublich romantisch. ‚Oben auf der Steilküste, hoch über der Bucht befindet sich die Grotte, in der der Sage nach Odysseus sieben Jahre lang im Bann der Zauberin Kalypso lebte …“
    „Eine Höhle?“, hatte John gefragt. „Wir haben gestern Dutzende davon besichtigt.“
    „‚Bevor die Straße gebaut wurde“, war Rosie fortgefahren, „‚gab es nur einen einzigen Weg dorthin – den antiken gepflasterten Pfad … Oh Carol, du musst ihn unbedingt ausprobieren! Ich würde mitkommen, glaub mir, aber ich bin fix und fertig von diesen ganzen Tempelanlagen, durch die wir heute Morgen gelaufen sind.“
    Lächelnd wandte Carol sich um und ging weiter. Die Sonne schien ihr auf den Rücken, wärmte ihn ebenso wie die glatten grauen Steine, auf die sie trat, und den Blumenteppich, der sich zu ihren Füßen ausbreitete: fedriger Fenchel, purpurrote Malve und blau blühender Borretsch. Ihr Blick blieb an einer silbrigen Distel hängen, und vor ihrem inneren Auge erschien der Umriss der Pflanze als gedrucktes Muster auf Samt – blau und grün auf grauem Untergrund, genau wie die
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