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Schau mir ins Herz

Schau mir ins Herz

Titel: Schau mir ins Herz
Autoren: Daphne Hope
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Rosette stachliger Blätter hier vor dem grauen Stein.
    Eine Eidechse huschte auf den Weg. Mit bebenden Flanken verharrte das Tier an einem sonnigen Fleck, und Carol bewunderte die Perfektion seines geschuppten Körpers. Ein winziger graugrüner Drachen mit verschleierten Augen.
    Sie warf einen Blick auf den Weg, der vor ihr lag, und fragte sich, wie weit die Grotte wohl noch entfernt sein mochte.
    Zu ihrer Linken entdeckte sie eine Villa, die sie zuvor nicht gesehen hatte, da sie hinter einem dichten Gürtel blühender Bäume verborgen lag. Das Haus war, wie fast alle Gebäude auf Gozo, aus gelblichen Steinquadern erbaut, die mit den Jahren ausbleichten und einen sanften, warmen Honigton annahmen. Doch wenn die Steine neu waren, so wie bei dieser Villa, leuchtete die Farbe beinahe wie Gold.
    Dann bemerkte sie den Mann, der vor dem Haus stand und mit zusammengekniffenen Augen zu ihr schaute.
    Ihre Blicke trafen sich, und Carol war, als ob ein Stromschlag durch sie hindurchraste. Ihr Herzschlag geriet ins Stolpern, und sie bekam keine Luft. Nie zuvor in ihrem Leben war sie sich der Gegenwart eines Menschen so überdeutlich bewusst gewesen.
    Der Mann war hoch gewachsen. Einschüchternd groß, dachte Carol. Er war ein dunkler Typ mit so tief gebräunter Haut, dass es sich um einen Einheimischen handeln musste – obwohl sein schwarzes Haar glatt war, wie sie feststellte, und nicht gelockt wie das der Fischer von Malta. Die Art, wie er die Lippen aufeinanderpresste, hätte seinem Gesicht ein finsteres, beinahe grausames Aussehen verliehen, wären da nicht die Fältchen um seine Mundwinkel gewesen, die verrieten, dass er auch lachen konnte.
    Aber es waren die Augen des Mannes, die Carol fesselten. Sie waren unverwandt auf sie gerichtet und besaßen die gleiche geheimnisvolle Tiefe wie das Meer hinter ihr.
    Ganz schön unverfroren, dachte sie. Wie er mich mustert, und dann auch noch mit diesem Respekt gebietenden Blick . Sie wusste, dass sie hübsch war und dass Männer sie oft bewundernd anschauten, aber im Allgemeinen sahen sie fort, wenn sie zurückstarrte.
    Was genau das war, was sie nun selber tat. Sie blinzelte und senkte den Blick auf den Weg vor ihr. Die Eidechse huschte in eine Ritze zwischen zwei Steinen und war verschwunden. Als Carol wieder hochschaute, war der Mann nicht mehr da.
    Sie verspürte einen winzigen Stich der Enttäuschung, und die eigentümliche Aufregung, die sie durchflutet hatte, während sie ihn betrachtete, ließ nach. Sie zuckte die Schultern. Wahrscheinlich ohnehin nur ein Tourist, der die Augen wegen der Sonne zusammengekniffen hatte, und nicht ihretwegen. Oder doch …? Sie erinnerte sich an das Gefühl plötzlicher Wachheit, als sie geglaubt hatte, sein durchdringender Blick ruhe auf ihr.
    Da der Mann verschwunden war, betrachtete sie in Ruhe die säulengeschmückte Vorderfront der Villa, vor der sich eine Terrasse erstreckte, die an allen vier Ecken von steinernen Statuen flankiert war. Sie entdeckte einen Brunnen mit einem flachen Becken darunter, in das jedoch kein Wasser sprudelte. Neben der Terrasse hatte man einen mächtigen Haufen gelber Steinblöcke abgeladen. Maurerwerkzeug lag achtlos überall auf dem Boden verstreut. Die Villa war eine Baustelle.
    Das musste es sein: Der Fremde war ein Handwerker, und wahrscheinlich einer, der es nicht mochte, wenn Leute, die hier vorbeikamen, ihn bei der Arbeit störten. Verglichen mit den gutmütigen Maltesern waren die Gozitaner, wenn auch nicht wirklich abweisend, so doch reservierter und stolzer – und unabhängiger – in ihrer Art. Dennoch, dachte Carol, ich hätte ihn fragen sollen, wie weit es noch ist bis zur Grotte der Kalypso . Entweder war sie daran vorbeigelaufen, oder der Reiseführer enthielt falsche Informationen.
    Sie folgte dem Weg weiter bergaufwärts. Nach ein paar Minuten gelangte sie zu einem massiven kleinen Gebäude, das aus dem gleichen gelblichen Stein errichtet war wie alle Häuser auf der Insel und an dessen Fenster ein Zettel hing. „Postkarten und Klöppelspitze aus Gozo“ stand darauf.
    Das muss ich Rosie erzählen, dachte Carol. Die Freundin ihres Bruders vertrat die Ansicht, dass Stricken die Klöppelei als Nationalhandwerk auf der Insel abzulösen begann. John hatte dagegengehalten, dass die Spitzenherstellung auf Gozo eine ungebrochene Tradition sei, und den Reiseführer zitiert, um seinen Standpunkt zu untermauern. Rosie war nicht überzeugt gewesen und hatte gemeint, das wolle sie sehen, bevor sie es
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