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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um
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nicht, warum. Es war eine ziemlich ausgefallene Gewohnheit für jemanden, der knapp dreißig Jahre alt war, selbst für eine Anwältin bei der Staatsanwaltschaft von Cook County in Chicago. »Na, jemand gefunden, den Sie kennen?« hatte einer ihrer Kollegen einmal gefragt. Jess hatte den Kopf geschüttelt. Es war nie jemand darunter, den sie kannte.
    Suchte sie nach ihrer Mutter, wie ihr geschiedener Mann einmal unterstellt hatte? Oder erwartete sie vielleicht, ihren eigenen Namen zu sehen?
    Der Fremde mit dem strähnigen blonden Haar und dem bösen Lächeln drängte sich rücksichtslos in ihre Gedanken. Ich bin der Tod, sprach er höhnisch, und seine Stimme brach sich an den nackten Bürowänden. Ich bin gekommen, dich zu holen.
    Jess senkte die Zeitung und ließ ihren Blick langsam durch das Zimmer wandern. Drei Schreibtische aus mehr oder weniger zerkratztem Walnußholz standen willkürlich verteilt vor mattweißen Wänden. Bilder waren keine da, weder Landschaften noch Porträts, nichts außer einem alten Poster von Bye Bye Birdie , das mit mittlerweile
vergilbtem Tesafilm festgeklebt an der Wand gegenüber ihrem Schreibtisch hing. Die durch und durch zweckmäßigen Metallregale waren mit juristischen Fachbüchern vollgestopft. Die ganze Einrichtung wirkte so, als könnte sie jederzeit zusammengepackt und abtransportiert werden. Und so war es auch. Es kam häufig genug vor. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft wurden turnusmäßig von Abteilung zu Abteilung versetzt. Es war nicht empfehlenswert, sich irgendwo zu heimisch zu fühlen.
    Jess teilte sich das Büro mit Neil Strayhorn und Barbara Cohen, die ihr als Vertreter beziehungsweise Vertreterin beigeordnet waren. Jess war als Leiterin ihrer Gruppe für alle größeren Entscheidungen über Arbeits- und Vorgehensweise der Gruppe zuständig. In Cook County gab es siebenhundertfünfzig Staatsanwälte, über zweihundert waren allein in diesem Gebäude untergebracht; zu jeder Abteilung gehörten achtzehn Staatsanwälte, drei pro Zimmer, und alle waren sie Abteilungsleitern unterstellt. Spätestens um halb neun pflegte es in dem Labyrinth von Büros im zwölften und dreizehnten Stockwerk des Administration Building so lebhaft und laut zuzugehen wie auf dem Wrigley Field, so schien es Jess jedenfalls meistens, die diese kurzen Augenblicke des Friedens und der Ruhe vor der Ankunft der anderen im allgemeinen sehr genoß.
    Heute allerdings war das anders. Der junge Mann hatte sie verstört, sie aus ihrem gewohnten Rhythmus geworfen. Was war es nur an ihm, das ihr so vertraut erschien, fragte sie sich. In Wahrheit hatte sie sein Gesicht ja gar nicht richtig gesehen, hatte über dieses schaurige Lächeln hinaus kaum etwas wahrgenommen, wäre niemals fähig gewesen, ihn einem Polizeizeichner zu beschreiben, hätte ihn bei einer Gegenüberstellung niemals erkannt. Er hatte sie ja nicht einmal angesprochen. Weshalb ging er ihr nicht aus dem Kopf?
    Sie wandte sich wieder den Todesanzeigen zu. Bederman, Marvin, 74, nach langer Krankheit in Frieden heimgegangen; Edwards, Sarah, im einundneunzigsten Lebensjahr verschieden...

    »Du bist aber früh da!« sagte jemand von der Tür her.
    »Ich bin immer früh da«, antwortete Jess, ohne aufzusehen. Die Mühe konnte sie sich sparen. Hätte nicht der aufdringliche Duft des Aramis Eau de Colognes Greg Oliver verraten, so hätte es auf jeden Fall der selbstbewußte, schwadronierende Ton seiner Stimme getan. Im Amt hieß es allgemein, Greg Olivers hohe Erfolgsquote im Gerichtssaal werde nur von seinen Rekorden im Schlafzimmer übertroffen. Aus eben diesem Grund achtete Jess stets darauf, daß ihre Gespräche mit dem vierzigjährigen Staatsanwalt von nebenan streng sachlich und unpersönlich blieben. Nach ihrer gescheiterten Ehe mit einem Anwalt stand für sie fest, daß eine neue Beziehung zu einem Kollegen nicht in Frage kam.
    »Kann ich was für dich tun, Greg?«
    Greg Oliver durchmaß den Raum zwischen der Tür und ihrem Schreibtisch mit drei schnellen Schritten. »Zeig mal, was du da liest.« Er beugte sich vor, um ihr über die Schulter zu sehen. »Die Todesanzeigen? Du lieber Himmel, was die Leute nicht alles tun, um ihren Namen in die Zeitung zu kriegen.«
    Jess mußte wider Willen lachen. »Greg, ich hab einen Haufen zu tun...«
    »Das sehe ich.«
    »Nein, wirklich«, behauptete Jess mit einem raschen Blick in sein auf konventionelle Weise gutaussehendes Gesicht, das die flüssige Schokolade seiner Augen bemerkenswert machte.
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