Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Kollege würden schon sehr überzeugend sein müssen.
    Bei einem Prozeß vor dem Geschworenengericht arbeiteten die Staatsanwälte immer paarweise. Ihr Vertreter, Neil Strayhorn, würde zunächst ein erstes Schlußplädoyer halten, in dessen Rahmen er den Geschworenen noch einmal die nackten, häßlichen Tatsachen des Falls ins Gedächtnis rufen würde. Dem würden die abschließenden Bemerkungen des Verteidigers folgen, und danach würde Jess selbst das replizierende Schlußplädoyer halten, das reichlich Gelegenheit zu kreativer moralischer Entrüstung bot.
    »Jeden Tag werden in den Vereinigten Staaten 1871 Frauen vergewaltigt«, begann sie laut, um in der Geborgenheit ihres Büros ihren Vortrag noch einmal zu üben. »Das heißt, daß etwa alle 46 Sekunden eine erwachsene Frau vergewaltigt wird, was sich im Laufe eines Jahres zu 683000 Vergewaltigungen summiert.« Sie holte tief Atem und wendete die Sätze in ihrem Kopf wie Salatblätter in einer großen Schüssel. Sie wendete sie immer noch hin und her, als zwanzig Minuten später Barbara Cohen kam.
    »Wie läuft’s?« Barbara Cohen, mit knallrotem Haar, das ihr in
krausen Locken fast bis zur Rückenmitte herabfiel, war beinahe einen Kopf größer als Jess und sah mit ihren langen, dünnen Beinen aus, als ginge sie auf Stelzen. Jess mochte noch so schlecht gelaunt sein, sie brauchte Barbara, ihre zweite Mitarbeiterin, nur anzusehen, und schon mußte sie lächeln, ob sie wollte oder nicht.
    »Ich bemühe mich, die Ohren steifzuhalten.« Jess sah auf ihre Uhr, eine schlichte Timex mit einem schwarzen Lederband. »Hör mal, Barbara, ich möchte gern, daß du und Neil diese Drogensache, den Fall Alvarez, übernehmt, wenn es zum Prozeß kommt.«
    Barbara Cohens Gesicht zeigte eine Mischung aus freudiger Erregung und Unsicherheit. »Ich dachte, das wolltest du selbst machen.«
    »Ich kann nicht. Mir schlägt die Arbeit über dem Kopf zusammen. Außerdem schafft ihr beide das bestimmt. Ich bin ja hier, wenn ihr Hilfe brauchen solltet.«
    Barbara Cohen bemühte sich ohne Erfolg, das Lächeln zurückzuhalten, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete und alle professionelle Nüchternheit verdrängte.
    »Soll ich dir einen Kaffee holen?« fragte sie.
    »Wenn ich noch mehr Kaffee trinke, muß ich nachher im Gerichtssaal alle fünf Minuten raus. Glaubst du, daß mir das bei den Geschworenen viel Sympathie einbringen würde?«
    »Wohl kaum.« Barbara lachte.
    Neil Strayhorn traf ein paar Minuten später mit der frohen Botschaft ein, daß er das Gefühl habe, er brüte eine Erkältung aus. Er setzte sich unverzüglich an seinen Schreibtisch. Jess konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten, während er lautlos den Text seiner Schlußbemerkung hersagte.
    In den sie umgebenden Büros der Staatsanwaltschaft von Cook County wurde es langsam lebendig. Jess registrierte automatisch jede neue Ankunft, während in den Nachbarräumen Stühle gerückt, Schubladen geöffnet und geschlossen, Computer eingeschaltet wurden, während Faxgeräte zu summen begannen und Telefone läuteten.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, vermerkte sie das Eintreffen jeder der vier Sekretärinnen, die den achtzehn Anwälten dieser Abteilung zur Verfügung standen, erkannte, ohne sich zu bemühen, den schweren Schritt Tom Olinskys, ihres Abteilungsleiters, als er zu seinem Büro am Ende des langen Korridors ging.
    »Jeden Tag werden in den Vereinigten Staaten 1871 Frauen vergewaltigt«, begann sie von neuem, in dem Bemühen, ihre Konzentration wiederzufinden.
    Eine der Sekretärinnen, eine Schwarze, die ebensogut zwanzig wie vierzig hätte sein können, schaute zur Tür herein. Ihre langen tropfenförmigen roten Ohrringe fielen ihr fast bis auf die Schultern.
    »Connie DeVuono ist hier«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, als befürchte sie, Jess würde den nächstbesten Gegenstand nach ihr werfen.
    »Was soll das heißen, sie ist hier?«
    »Das heißt, sie steht draußen vor der Tür. Sie ist anscheinend einfach am Empfang vorbeimarschiert. Sie behauptet, sie müßte unbedingt mit Ihnen reden.«
    Jess warf einen Blick auf ihren Terminkalender. »Wir sind erst für vier Uhr verabredet. Haben Sie ihr gesagt, daß ich in ein paar Minuten bei Gericht sein muß?«
    »Ja. Sie läßt sich nicht abwimmeln. Sie ist sehr erregt.«
    »Das ist nicht weiter verwunderlich«, sagte Jess bei dem Gedanken an die junge Witwe, die auf brutalste Weise von einem Mann geschlagen und vergewaltigt worden war, der ihr danach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher