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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um
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Gefängnis von Cook County, wo des Mordes und anderer Verbrechen Angeklagte, die entweder die Kaution nicht aufbringen konnten oder denen Sicherheitsleistung nicht zugestanden worden war, eingesperrt blieben, bis ihnen der Prozeß gemacht wurde. Ein finsterer, unheilvoller Ort, dachte Jess oft, für finstere, unheilvolle Menschen.
    Ich bin der Tod , flüsterte es von den Straßen herauf. Ich bin gekommen, dich zu holen.
    Sie schüttelte energisch den Kopf und sah zum Himmel hinauf, aber selbst der war stumpf und grau, von Schneewolken schwer. Schnee im Oktober, dachte Jess. Sie konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal vor Allerheiligen geschneit hatte. Trotz der Wettervorhersage hatte sie ihre Stiefel nicht angezogen. Sie waren nicht mehr wasserdicht und hatten rund um die Kappen häßliche Salzringe, wie die Jahresringe eines Baums. Vielleicht würde sie später kurz in die Stadt gehen und sich ein paar neue kaufen.
    Das Telefon läutete. Gerade mal acht Uhr, und schon ging es los. Sie hob den Hörer ab, ehe es ein zweites Mal läuten konnte.
    »Jess Koster«, sagte sie.
    »Jess Koster, Maureen Peppler hier.« In der Stimme schwang mädchenhaftes Gelächter. »Störe ich dich?«
    »Du störst nie«, versicherte Jess ihrer älteren Schwester und sah dabei Maureens vergnügtes Lächeln und ihre warmen grünen Augen vor sich. »Ich bin froh, daß du angerufen hast.«
    Jess hatte Maureen immer mit den zart gezeichneten Ballettänzerinnen Edgar Degas’ verglichen, weich und verschwommen in den Konturen. Selbst ihre Stimme war weich. Die Leute sagten oft, die Schwestern sähen einander ähnlich. Das stimmte in gewisser Hinsicht, beide hatten sie das gleiche ovale Gesicht, beide waren sie groß
und schlank, doch nichts an Jess war verschwommen. Ihr braunes schulterlanges Haar war dunkler als das Maureens, ihre Augen hatten einen tieferen, eindringlicheren Grünton, ihr zierlicher Körper war weniger gerundet, kantiger. Es war, als hätte der Künstler zweimal die gleiche Skizze angefertigt, die eine dann in Pastell ausgeführt, die andere in Öl.
    »Was gibt’s?« fragte Jess. »Wie geht’s Tyler und den Zwillingen?«
    »Den Zwillingen geht’s prächtig. Tyler ist immer noch nicht begeistert. Er fragt dauernd, wann wir sie endlich zurückschicken. Du hast dich nicht nach Barry erkundigt.«
    Jess kniff einen Moment die Lippen zusammen. Maureens Mann, Barry, war ein erfolgreicher Wirtschaftsprüfer, und für seinen brandneuen Jaguar hatte er sich Nummernschilder mit der Aufschrift EARND IT pressen lassen. Mußte sie wirklich noch mehr von ihm wissen? »Wie geht es ihm?« fragte sie trotzdem.
    »Gut. Das Geschäft läuft phantastisch trotz der Wirtschaftskrise. Oder vielleicht deswegen. Na, egal, er ist jedenfalls sehr zufrieden. Ich wollte dich für morgen abend zu uns zum Essen einladen. Bitte sag jetzt nicht, du bist schon verabredet.«
    Jess hätte beinahe gelacht. Wann hatte sie das letzte Mal eine Verabredung gehabt? Wann war sie das letzte Mal ausgegangen, ohne daß berufliche Gründe dahintergesteckt hätten? Wie war sie auf den Gedanken gekommen, nur Ärzte seien vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst?
    »Nein, ich bin nicht verabredet«, antwortete sie.
    »Gut, dann kommst du also. Ich seh dich dieser Tage viel zu selten. Ich glaube, ich hab dich öfter zu Gesicht bekommen, als ich noch gearbeitet habe.«
    »Dann fang doch wieder an zu arbeiten.«
    »Nie im Leben. Also, morgen um sechs. Dad kommt auch.«
    Jess lächelte. »Schön, wir sehen uns morgen.« Kurz bevor sie den Hörer auflegte, hörte sie aus der Ferne noch Babygeschrei. Sie stellte
sich vor, wie Maureen vom Telefon ins Kinderzimmer lief, sich über die Bettchen ihrer sechs Monate alten Zwillinge beugte, die Kleinen wickelte und fütterte und dabei darauf achtete, daß auch der Dreijährige, der ihr nicht von der Seite wich, die Aufmerksamkeit bekam, die er sich so dringend wünschte. Welten entfernt von den heiligen Hallen der Harvard Business School, an der sie ihren Magister in BWL gemacht hatte. Jess zuckte die Achseln. Jeder von uns muß seine Entscheidung treffen, dachte sie. Maureen hatte ihre offensichtlich getroffen.
    Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und versuchte, sich auf das bevorstehende Stück Arbeit zu konzentrieren. Sie hoffte inständig, sie könnte Greg Oliver beweisen, daß er sich geirrt hatte. Sie wußte allerdings, daß es nahezu unmöglich war, in diesem Fall eine Verurteilung zu erreichen. Sie und ihr
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