Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattennacht

Schattennacht

Titel: Schattennacht
Autoren: D Koontz
Vom Netzwerk:
Kinderbücher in dem Regal an Annamaries Seite des Zimmers standen ordentlich nebeneinander. Auf dem Nachttisch hielt ein Porzellankaninchen mit beweglichen Fellohren Wache. Es trug einen altertümlichen Herrenanzug.
    Alles war still, und doch spürte ich eine kaum gebändigte Energie. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn jeder unbelebte Gegenstand im Raum zum Leben erwacht wäre und sich in die Luft erhoben hätte, um sich dort zu drehen und von einer Wand zur anderen zu schweben.
    Mitten ins Schweigen hinein versuchte Justine erneut zu sprechen, und Annamarie sagte mit ihrer liebenswert piepsigen Stimme: »Klär mich auf.«
    Ich trat vom Bett der schlafenden Annamarie zu dem von Justine.
    Aus Furcht, meine Stimme könnte den Bann brechen, sagte ich kein Wort.
    Ich fragte mich, ob das geschädigte Gehirn des Mädchens wohl Raum für eine Besucherin geschaffen hatte, und ich wünschte mir, dass die bodenlosen blauen Augen sich in ein bestimmtes Paar ägyptisch schwarzer Augen verwandelten, die mir so vertraut waren.
    An manchen Tagen fühle ich mich, als wäre ich schon immer einundzwanzig gewesen, aber die Wahrheit lautet, dass ich einmal jung war.
    In jener Zeit, als der Tod etwas war, das nur anderen Leuten zustieß, hat Bronwen Llewellyn, meine Liebste, die lieber Stormy
genannt wurde, manchmal gesagt: Klär mich auf, du komischer Kauz . Gemeint war damit, dass ich ihr berichten sollte, was den Tag über geschehen war, oder dass ich ihr meine Gedanken, Ängste und Sorgen anvertrauen sollte.
    In den sechzehn Monaten, die vergangen waren, seit Stormy in dieser Welt zu Asche geworden war, um in einer anderen Welt den Dienst anzutreten, hatte niemand diese Worte zu mir gesagt.
    Justine bewegte den Mund, ohne ein Geräusch hervorzubringen, doch im Bett neben ihr sagte Annamarie im Schlaf: »Klär mich auf.«
    Das Zimmer kam mir luftleer vor. Ich verharrte in einer Stille, die so tief war wie in einem Vakuum. Mir stockte der Atem.
    Noch vor einem Moment hatte ich mir gewünscht, das Blau dieser Augen möge sich ins Schwarz von Stormys Augen verwandeln und meine Ahnung bestätigen, dass sie Kontakt mit mir aufnahm. Nun jagte mir die Aussicht Furcht ein.
    Wenn wir hoffen, dann hoffen wir normalerweise auf das Falsche.
    Wir sehnen uns nach morgen und dem Fortschritt, den dieses Wort verspricht. Aber auch gestern war einmal morgen, und wo war da der Fortschritt drin?
    Oder wir sehnen uns nach gestern, nach dem, was einmal war oder hätte sein können. Doch während wir uns danach sehnen, wird die Gegenwart zur Vergangenheit, sodass die Vergangenheit nichts ist als unsere Sehnsucht nach einer zweiten Chance.
    »Klär mich auf«, wiederholte Annamarie.
    Solange ich dem Strom der Zeit unterworfen bleibe, was zutrifft, solange ich lebe, gibt es keinen Weg zurück zu Stormy oder zu irgendetwas anderem. Der einzige Weg zurück führt vorwärts, flussabwärts. Der Weg hinauf ist der Weg hinab, und der Weg zurück ist der Weg voran.
    »Klär mich auf, du komischer Kauz.«

    Meine Hoffnung hier in Zimmer 32 durfte also nicht darin bestehen, jetzt mit Stormy zu sprechen, sondern darin, das am Ende meiner Reise zu tun, wenn die Zeit keine Macht mehr über mich hatte und eine ewige Gegenwart die Vergangenheit jedes Reizes beraubte.
    Bevor ich in jener blauen Leere womöglich doch das ägyptische Schwarz sah, das ich mir erhoffte, wandte ich den Blick ab und starrte auf meine Hände, die sich an die Stange am Bettende klammerten.
    Stormys Geist verweilt nicht mehr in dieser Welt, wie es der von so vielen anderen Menschen tut. Sie ist weitergezogen, wie es sein sollte.
    Die heftige, unsterbliche Liebe der Lebenden kann auf die Toten wirken wie ein Magnet. Hätte ich Stormy zurückgelockt, so hätte ich ihr jedoch einen unglaublich schlechten Dienst erwiesen. Obwohl ein erneuter Kontakt meine Einsamkeit anfangs wohl gelindert hätte, bringt es letztendlich nur Elend, auf das Falsche zu hoffen.
    Ich starrte auf meine Hände.
    Die schlafende Annamarie war verstummt.
    Die Plüschkätzchen und das Porzellankaninchen verharrten leblos, wodurch sich keine Szene einstellte, die in einen Grusel-oder einen Disneyfilm gepasst hätte.
    Nach einer Weile schlug mein Herz wieder im normalen Takt.
    Justines Augen waren geschlossen. Ihre Wimpern glänzten, ihre Wangen waren feucht. An der Kante ihres Kiefers hingen zwei Tränen, die zitterten und dann aufs Laken fielen.
    Ich verließ das Zimmer und machte mich auf die Suche nach Boo und den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher