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Schattennacht

Schattennacht

Titel: Schattennacht
Autoren: D Koontz
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Zimmer gekommen, um mich zu vergewissern, dass der Thermostat richtig eingestellt war. Anschließend zog ich die Jalousie hoch und schaute nach, ob das Fenster gut geschlossen war, dann pulte ich etwas Schmalz aus meinem rechten Ohr und kratzte mir ein Stückchen Salatblatt aus den Zähnen, allerdings nicht mit demselben Finger.
    Die Bodachs ignorierten mich – oder sie taten so, als würden sie mich ignorieren.
    Das schlafende Mädchen nahm ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit in Anspruch. Ihre Hände oder Pfoten schwebten wenige Zentimeter über dem liegenden Körper, und ihre Finger oder Klauen beschrieben Kreise in der Luft. Sie sahen aus, als würden sie auf einem Instrument aus Trinkgläsern spielen, deren feuchtem Kristallrand sie eine gespenstische Musik entlockten.
    Vielleicht war es die Unschuld des Mädchens, die auf die Bodachs wirkte wie ein eindringlicher Rhythmus. Vielleicht empfanden diese Wesen den reduzierten Zustand, die lammfromme
Anmut und die extreme Verwundbarkeit Justines wie die Takte einer Symphonie.
    Was Bodachs angeht, kann ich nur Theorien aufstellen. Ich weiß nichts Gewisses über ihr Wesen und ihre Herkunft.
    Das gilt allerdings nicht nur für Bodachs. Die Akte mit dem Etikett DINGE, ÜBER DIE ODD THOMAS NICHTS WEISS ist nicht weniger gewaltig als der ganze Rest des Universums.
    Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, wie viel ich nicht weiß. Vielleicht liegt Weisheit in dieser Erkenntnis. Trost habe ich darin leider nicht gefunden.
    Unvermittelt richteten sich die drei Bodachs, die sich soeben noch über Justine gebeugt hatten, auf und drehten ihre wölfischen Köpfe synchron zur Tür, als reagierten sie auf einen Trompetenruf, den ich nicht hören konnte.
    Boo konnte ihn offenbar auch nicht hören, denn seine Ohren stellten sich nicht auf. Seine Aufmerksamkeit galt weiterhin ausschließlich den düsteren Geistern.
    Wie Schatten, die plötzlich von einem Lichtstrahl verjagt wurden, wirbelten die Bodachs vom Bett weg, stürzten zur Tür und verschwanden im Flur.
    Ich wollte ihnen folgen, zögerte jedoch, als ich merkte, dass Justine mich anstarrte. Ihre blauen Augen waren wie ein durchscheinendes Gewässer, genauso klar, scheinbar ohne jedes Geheimnis und doch bodenlos.
    Manchmal war man sicher, dass man von ihr gesehen wurde. An anderen Tagen, so auch jetzt, spürte man, dass man für sie so durchsichtig wie Glas war, ja dass sie durch alles auf dieser Welt hindurchblicken konnte.
    »Hab keine Angst«, sagte ich zu ihr, was doppelt anmaßend war. Zum einen wusste ich nicht, ob sie sich fürchtete und ob sie überhaupt fähig war, Furcht zu empfinden. Zum anderen gaukelte ich ihr mit meinen Worten einen Schutz vor,
den ich ihr in der nahenden Krise womöglich gar nicht bieten konnte.
    Zu weise und demütig, um den Helden zu spielen, hatte Boo das Zimmer verlassen.
    Während ich ebenfalls auf die Tür zuging, murmelte Annamarie im anderen Bett: »Odd.«
    Ihre Augen blieben geschlossen, und mit den Händen umklammerte sie noch immer die Zudecke. Sie atmete flach, doch rhythmisch.
    Als ich am Fußende ihres Betts stehen blieb, sagte sie noch einmal, deutlicher als zuvor: »Odd.«
    Annamarie war mit einer schweren Form von Spina bifida geboren worden, bei der sich ein Spalt in der Wirbelsäule gebildet hatte. Ihre Hüften waren verrenkt, ihre Beine deformiert. Der auf dem Kissen liegende Kopf sah fast so groß aus wie der geschrumpfte Körper unter der Decke.
    Obwohl sie zu schlafen schien, flüsterte ich: »Was ist denn, Liebes?«
    »Komischer Kauz«, sagte sie.
    Ihre geistige Behinderung war nicht schwer und drückte sich auch nicht in ihrer Stimme aus, die weder schwerfällig noch verwaschen klang, sondern hell, liebenswürdig und charmant.
    »Komischer Kauz.«
    Ein Schauer durchfuhr mich, so eisig wie die Winternacht draußen.
    Eine Art Intuition lenkte meine Aufmerksamkeit auf das zweite Bett, in dem Justine lag. Sie hatte den Kopf gedreht, um mir zu folgen. Zum ersten Mal heftete sie ihre Augen auf meine.
    Der Mund von Justine bewegte sich, brachte jedoch nicht einmal eines der wortlosen Geräusche hervor, zu denen sie angesichts ihrer stärkeren Behinderung fähig war.

    Während Justine sich erfolglos bemühte, etwas zu sagen, wiederholte Annamarie erneut: »Komischer Kauz.«
    Die Jalousie hing schlaff vor dem Fenster. Auf dem Regal neben Justines Bett saßen reglos ihre Plüschkätzchen, ohne auch nur ein einziges Mal zu zwinkern oder mit den Schnurrhaaren zu zucken.
    Die
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