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Schattenjagd

Schattenjagd

Titel: Schattenjagd
Autoren: Ernst Vlcek
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sie mit der Handhabung des Zaumzeugs gute Fortschritte machten, gönnte ihnen Harmod eine Pause und führte sie zu einer Wasserstelle, an der sie sich laben konnten. Auf dem Weg dorthin fragte Mythor den Moronen: »Ist das die Schattenzone?«
    »Beim Shallad, nein!« stieß Harmod hervor. »Das sind Gewitterwolken, die aufziehen. Sie schieben sich vor die Schattenzone, so dass uns der Anblick erspart bleibt, wie diese die Sonne verschlingt. Eines Morgens, vielleicht an jenem Tag, da sich die Belagerung Logghards durch die Dunklen Mächte zum zweihundertfünfzigsten Male jährt, wird die Schattenzone die Sonne nicht wieder freigeben, und dann beginnt die ewige Nacht.«
    Mythor sagte nichts dazu. Er wollte sich den Moronen nicht zum Feind machen, indem er seinen Glauben anzweifelte. »Ich habe noch keinen Vogelreiter wie dich kennengelernt«, sagte er statt dessen zu Harmod, während sie durch das Heerlager schritten. »Alle, denen ich bisher begegnet bin, halten sich für bessere Menschen und behandeln andere wie ihre Sklaven. Du aber behandelst uns wie deinesgleichen.«
    »Du kannst mich nicht verlegen machen«, erwiderte Harmod. »Eines Tages magst du einem Dämon begegnen und musst feststellen, dass er manchem Menschen an Bösartigkeit nicht das Wasser reichen kann.«
    »Das klingt sehr weise«, meinte Mythor. »Aber glaubst du wirklich daran, dass es selbst unter den Dämonen solche und solche gibt?«
    Harmod hob die Schultern. Plötzlich hielt er an und blickte zu einem freien Platz zwischen den Zelten. Mythor folgte seinem Blick und blieb ebenfalls unwillkürlich stehen.
    Dort war ein Pfahl in den Boden gerammt, und an diesen war ein halbnackter Mann gekettet. Bei genauerem Hinsehen erkannte Mythor jedoch, dass er fast noch ein Kind war, bestimmt nicht älter als siebzehn Sommer.
    Der Junge war nur mit einem schmutziggrauen Lendentuch bekleidet, das er zwischen den Beinen hindurchgeschlungen und auf der linken Seite verknotet hatte. Er war groß, schlank und sehnig und hatte einen schmalen, langen Schädel, der hinten ziemlich ausladend war, was jedoch auf seine wuschelige Haartracht zurückzuführen war. Er hatte eine breite Nase und aufgeworfene, fast wulstige Lippen.
    Eine Besonderheit stach Mythor jedoch mehr als alles andere ins Auge. Während sein übriger Körper dunkelhäutig, von erdbrauner Farbe war, zeigte sich seine linke Gesichtshälfte heller. Die Haut auf dieser Seite des Gesichts wäre vermutlich sogar blass gewesen, hätte das Sonnenlicht sie nicht gerötet. Die Grenze zwischen hell und dunkel zog sich in gerader Linie über Kinn, den Nasenrücken und die Mitte der Stirn, und sie fand ihre Verlängerung in einem zwei Finger dicken Streifen, auf dem das Wuschelhaar bis in den Nacken geschoren war.
    »Wer ist der Gefangene?« erkundigte sich Mythor.
    Harmod schreckte hoch und ging rasch weiter. »Kommt! Das geht euch nichts an«, sagte er. Erst als sie den Platz mit dem Pranger hinter sich gelassen hatten, erklärte er Mythor: »Das ist ein Kundschafter der Rafher, des Volkes der gespaltenen Gesichter, gegen das wir im Namen Shallads zu Felde ziehen müssen. Dieser Rafher ist ein Ungläubiger, der den Shallad nicht als fleischgewordenen Lichtboten anerkennt. Ich müsste ihn darum hassen, aber ich kann nur Mitleid mit ihm empfinden. Trotzdem werde ich gegen sein Volk kämpfen und meinen Beitrag dazu leisten, dass es bekehrt wird – oder ausgerottet. Und jetzt, Mythor, sage mir, wo die Grenze zwischen Gut und Böse liegt.«
    Sie legten den Rest des Weges zur Wasserstelle schweigend zurück. Dort angekommen, mussten sie warten, bis zwei Echsengerüstete ihre Orhaken getränkt hatten; erst dann durften sie selbst ihren Durst stillen.
    Mythor dachte über Harmods Worte nach und überlegte sich, ob er den Moronen ins Vertrauen ziehen konnte. Aber dafür war es sicherlich noch zu früh.
    »Warum lässt man den Gefangenen schmachten?« erkundigte er sich, während er sich das Wasser über das Gesicht schöpfte und das kühle Nass als angenehmes Prickeln auf der Haut genoss .
    »Er schweigt«, antwortete der Morone. »Er soll leiden, um zum Sprechen gebracht zu werden.«
    »Es ist unmenschlich«, sagte Mythor. »So grausam darf man nicht einmal mit seinen Gegnern verfahren.«
    »Du kannst die Welt und die Menschen nicht ändern, Mythor.«
    »Das sagst du.« Mythor fasste plötzlich einen Entschluss, ohne sich über die möglichen Folgen den Kopf zu zerbrechen. »Aber wenn ich mir vorgenommen habe, für
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