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Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel
Autoren: Kathrin Lange
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Unruhe und Nervosität nicht mehr aus und setzte sich auf.
    Das Tagebuch sah im milchigen Mondlicht aus, als wäre es pechschwarz. Der weiche Samt kitzelte Kims Fingerspitzen, als sie es vom Regal zog und an der Stelle mit dem Gedicht aufschlug. Sie konnte den Blick nicht von der einen ersten Zeile lassen. Wieder stach sie ihr sofort ins Auge.
    Töte mich zärtlich, Liebster!
    Als Kim am nächsten Morgen aufstand, war sie zu ihrer eigenen Verblüffung guter Dinge. Mit dem festen Vorsatz, sich heute nicht von bösen Erinnerungen, rätselhaften Träumen und trübseligen Gedanken herunterziehen zu lassen, machte sie sich auf den Weg zur Schule. Den Vokabeltest, den sie in Englisch schreiben mussten, brachte sie ohne große Anstrengung hinter sich, obwohl sie zuvor nicht einen einzigen Blick in ihr Vokabelheft geworfen hatte. Und als sie dann sogar für ihre Berichtigung der Mathearbeit vom Lehrer einen anerkennenden Blick kassierte, entschied sie, dass dieser Tag tatsächlich um Längen besser war als der vorherige.
    In der ersten großen Pause begegnete sie Lukas.
    Er stand vor dem Terrarium von Ernie, dem unsichtbaren Dornschwanz, an derselben Stelle, an der er schon gestern gestanden hatte. Wartete er etwa auf sie?
    »Lauerst du mir auf?«, fragte sie gut gelaunt.
    Er grinste überrascht. »Nö. Wieso?« Seine Augen sahen wieder so aus, als wären sie von einem haarfeinen dunklen Strich umrahmt.
    Kim warf ihre Schultasche auf die blaue Sitzbank. »Nur so.« Dann setzte sie sich und kramte nach ihrer Englischmappe. Sie hatte vor, ihre Hausaufgaben gleich jetzt zu erledigen.
    Als sie die rote Mappe aus der Tasche zog, zeigte Lukas darauf und meinte: »Noch immer ›The influence of media‹?«
    Sie lächelte. »Nein. Heute müssen wir zur Abwechslung mal ein Gedicht interpretieren.« Sie pustete sich gegen den Pony. »Ich hasse so etwas, ob nun in Englisch oder Deutsch.«
    Er lachte. »Was will der Dichter uns damit sagen? Furchtbar! Finde ich auch.« Völlig selbstverständlich setzte er sich auf die Nachbarbank.
    Kim warf ihm nur einen kurzen Blick zu, damit er nicht dachte, sie würde sich für ihn interessieren. Trotzdem fiel ihr sofort auf, dass Lukas heute seinen Ohrring nicht trug.
    Sie tat so, als lese sie konzentriert ihr Gedicht, aber irgendwie ergab es jetzt noch weniger Sinn als vorhin im Unterricht. Seufzend gab sie auf. »Warum hast du deinen Ohrstecker rausgenommen?«, fragte sie.
    Unwillkürlich wanderte seine Hand ans Ohrläppchen. »Weil du dich gestern so erschrocken hast, als du ihn gesehen hast.«
    Er sagte das, als wäre es völlig selbstverständlich. Kim wusste einen Augenblick lang nicht, was sie darauf antworten sollte. »Das hast du gemerkt?«, fragte sie schließlich ungläubig.
    Er nickte ernsthaft. »War ja nicht zu übersehen. Du bist ganz blass geworden.«
    Kim spürte, dass er auf eine Erklärung wartete. »Auf den ersten Blick hat er ausgesehen wie eine Libelle«, murmelte sie. Die Tatsache, dass er den Ohrring ihretwegen rausgenommen hatte, berührte sie auf seltsam intensive Weise.
    Lukas wirkte ratlos. »Eine Libelle?«
    Während Kim noch mit sich rang, ob und wie viel sie ihm von DEM BÖSEN erzählen sollte, posaunte hinter ihr eine Stimme: »Pass besser auf, Blondie! Die Alte ist nicht ganz dicht im Hirn!«
    Kim presste die Kiefer aufeinander. Sie musste sich nicht umsehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand: die Beine gespreizt wie ein zweitklassiger Boxer, die Hände betont locker in die Gürtelschlaufen gehängt - Jonas! Der Typ ging in ihre Klasse und nervte Kim, seit sie denken konnte.
    »Darf ich vorstellen«, sagte Kim zu Lukas. »Der größte Vollpfosten der Schule!« Lukas lachte leise und Kim rieselte ein kleiner wohliger Schauer über den Rücken. »Hast du nichts Besseres zu tun?«, fragte sie Jonas, ohne den Kopf umzuwenden. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es klüger gewesen wäre, ihn zu ignorieren, aber sie konnte nicht. Sie fühlte sich wie eine Katze, die man gegen den Strich gestreichelt hatte. Heute würde sie sich nichts einfach so gefallen lassen.
    Lukas saß so, dass er sich nicht umdrehen musste, um Jonas einmal von oben bis unten zu mustern. Scheinbar vollkommen entspannt legte er den Arm auf die Rückenlehne der Bank und wandte leicht den Kopf in Jonas’ Richtung. In seinen seltsamen Augen funkelte es. Kim hätte in diesem Moment nicht sagen können, ob es sich dabei um Zorn oder Belustigung handelte.
    »Was könnte ich schon Besseres vorhaben?«
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