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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall
Autoren: R. Scott Bakker
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immer seltener atmen, bis seine Augen schläfrig wurden. Als Leweth ganz in Trance gefallen war, nahm Kellhus ihm seine letzten Geheimnisse und erforschte sein Bewusstsein bis in die hintersten Winkel.
     
     
    Kellhus hatte sich allein und auf Schneeschuhen durch frostige Fichtenwälder zu den Höhen aufgemacht, die die Hütte des Trappers von allen Seiten umgaben. Schneewehen strichen um die dunklen Stämme. Winterliche Stille lastete auf dem Land.
    Er hatte sich in den letzten Wochen den neuen Lebensumständen angepasst. Der Wald schien ihm kein Ort ohrenbetäubenden Missklangs mehr. In dieser Gegend lebten Winterkaribu und Zobel, Biber und Marder, und im Boden schlummerte Bernstein. Nackter Fels lag blankgewaschen unter einem großen Himmel, und die Seen waren wunderbar fischreich. Mehr aber gab es in diesem Land nicht – jedenfalls nichts, was Kellhus in Ehrfurcht oder Schrecken versetzen konnte.
    Vor ihm rutschte Schnee von einer flachen Klippe. Er blickte auf, suchte nach einem Steig, der ihn möglichst rasch auf den Höhenzug gelangen ließ, und begann zu klettern.
    Am Gipfel wuchsen nur ein paar verkümmerte Weißdornbüsche. Auf dem höchsten Punkt stand eine alte Stele, ein frei stehender Pfeiler, der sich ans Nichts zu lehnen schien und auf allen Seiten mit Runen und kleinen, aus dem Stein gehauenen Figuren übersät war.
     
     
    Was Kellhus hin und wieder hierher zog, war nicht so sehr der Text der Stele – von mundartlichen Varianten abgesehen glich er seiner eigenen Sprache bis aufs Haar – sondern der Name des Verfassers. Die Inschrift begann mit den Worten Und ich, Anasûrimbor Celmomas II. schaue von diesem Berg herab und erblicke die ganze Herrlichkeit, die ich geschaffen habe… und berichtete in aller Ausführlichkeit von einer großen Schlacht zwischen längst verstorbenen Königen. Leweth hatte berichtet, diese Gegend sei einmal die Grenze zweier Völker – der Kûniüri und der Eämnor – gewesen, die vor Jahrtausenden in mythischen Kriegen gegen einen Feind untergegangen seien, den der Trapper den »Nicht-Gott« nannte. Kellhus tat diese apokalyptischen Sagen wie viele Geschichten des Fallenstellers rundheraus ab. Den Namen Anasûrimbor aber, den er in den verwitterten Stein gegraben fand, konnte er nicht abtun. Jetzt war ihm klar, dass die Welt viel älter war als der Orden der Dûnyain. Und wenn seine Vorfahren auf diesen toten König zurückgingen, war auch er selbst von älterer Herkunft als die Mönche.
    Aber solche Gedanken waren für seine Mission bedeutungslos. Sein Studium des Trappers neigte sich dem Ende zu. Bald musste er weiter nach Süden ziehen, nach Atrithau, wo er – wie Leweth ihm immer wieder versichert hatte – bestimmt eine Reisemöglichkeit nach Shimeh auftun würde.
    Vom Gipfel sah Kellhus über die winterlichen Wälder Richtung Süden. Irgendwo hinter ihm im Norden lag Ishuäl zwischen vergletscherten Bergen versteckt. Vor ihm lag eine Pilgerfahrt durch eine Welt, deren Bewohner an willkürliche und obskure Bräuche gefesselt waren und ihre Stammeslügen schier endlos wiederholten. Hellwach würde er zu ihnen kommen, sich in den Niederungen ihrer Ahnungslosigkeit einnisten und sie durch die Kraft der Wahrheit zu seinen Werkzeugen machen. Er war ein Dûnyain, einer von den Eingeweihten, und würde alle Menschen und alle Verhältnisse seinem Willen unterwerfen. Er würde nicht Wirkung, sondern Ursache sein.
    Doch ein anderer Dûnyain erwartete ihn, einer, der diese Wildnis viel länger studiert hatte: Moënghus.
    Vater, wie groß ist deine Macht?
    Kaum hatte er sich vom Panorama abgewandt, bemerkte er etwas Seltsames. Hinter der Stele waren Spuren im Schnee zu sehen. Er betrachtete sie kurz und beschloss, den Trapper danach zu fragen. Wer immer hier gewesen war, war aufrecht gegangen. Aber ein Mensch war er sicher nicht.
     
     
    »So hat sie ausgesehen«, sagte Kellhus und drückte mit der Hand schnell einen Abdruck der Gipfelspur in den Schnee.
    Leweth beobachtete ihn ernst. Kellhus musste ihn nur flüchtig anschauen, um das Entsetzen zu sehen, das er zu verbergen suchte. Im Hintergrund jaulten die Hunde, zerrten an der Leine und liefen nervös im Kreis herum.
    »Wo hast du sie entdeckt?« Leweth stierte konzentriert auf den merkwürdigen Abdruck.
    »Bei der alten Stele der Kûniüri. Die Spur führt nach Nordwesten, ohne sich der Hütte zu nähern.«
    Der Fallensteller wandte ihm sein bärtiges Gesicht zu. »Und du weißt nicht, wer sie hinterlassen
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