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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall
Autoren: R. Scott Bakker
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Feuer. »… zu fliehen.«
    Warum macht er sich das vor?
    »Niemand ist eine Insel, Leweth. Jeder unserer Gedanken hat seinen Ursprung im Denken anderer. Jedes unserer Worte wiederholt nur frühere Worte. Wenn wir zuhören, öffnen wir uns dem Denken und Empfinden anderer.« Er hielt inne und kürzte seine Antwort ab, um den Trapper zu verwirren, da Einsicht größere Kraft entfaltet, wenn ihr Irritation vorausgegangen ist. »Das ist der wahre Grund deiner Flucht nach Sobel.«
    Die Augen des Trappers erstarrten einen Moment vor Schreck. »Aber ich verstehe nicht…«
    Nichts fürchtet er so wie die Wahrheit, die er längst weiß, aber noch immer leugnet. Ob alle Menschen, die außerhalb des Klosters aufwachsen, so schwach sind?
    »Natürlich verstehst du das, Leweth! Wenn allein unsere Gedanken und Leidenschaften uns zu uns selbst machen und diese Gedanken und Leidenschaften nur innere Vorgänge sind, dann prägt uns einzig, was unsere Seele und unseren Geist bewegt. Dein altes Ich, Leweth, ist mit deiner Frau gestorben.«
    »Und deshalb bin ich geflohen!«, rief der Trapper mit flehendem und zugleich herausforderndem Blick. »Ich habe das nicht mehr ertragen können. Ich bin weggelaufen, um zu vergessen!«
    Sein Puls beschleunigte kurz, und das Zittern der feinen Muskeln um die Augen stockte. Er weiß, dass er lügt.
    »Nein, Leweth. Du bist weggelaufen, um dich zu erinnern. Du bist geflohen, um alles, was du an deiner Frau geliebt hast, im Gedächtnis zu bewahren und den Schmerz über ihren Verlust von den verwässernden Einflüssen anderer reinzuhalten. Du bist geflohen, um dich in deinem Elend zu verschanzen.«
    Tränen strömten über die schlaffen Wangen des Fallenstellers. »Du bist grausam, Kellhus! Warum sagst du nur so was?«
    Um mich deiner noch mehr zu bemächtigen.
    »Weil du genug gelitten hast. Du hast hier jahrelang allein am Feuer gesessen, deinen Verlust mit Lust betrauert und deine Hunde immer wieder gefragt, ob sie dich gern haben. Du hortest deinen Schmerz, denn je mehr du leidest, desto mehr empört dich der Lauf der Welt. Du weinst, weil Weinen dir etwas beweist. ›Seht, was ihr mir angetan habt!‹, wimmerst du vor dich hin. Abend für Abend sitzt du zu Gericht, durchlebst deinen Schmerz aufs Neue und verfluchst die Umstände, die dich zu diesem Leben verdammt haben. Du quälst dich, Leweth – nur, um die Welt für deine Qualen verantwortlich zu machen.«
    Auch das wird er bestreiten…
    »Selbst wenn es so wäre – die Welt ist ruchlos, Kellhus, ruchlos!«
    »Möglich«, gab sein Gegenüber zurück, und in seiner Stimme lag Mitgefühl und Bedauern. »Doch es ist schon lange nicht mehr die Welt, die dir Qualen bereitet. Wie oft hast du dein ›Seht, was ihr mir angetan habt!‹ schon angestimmt? Und jedes Mal lastet auf diesem Satz die gleiche Verzweiflung – die Verzweiflung eines Menschen, der unbedingt etwas glauben will, von dem er weiß, dass es falsch ist. Langsam, langsam, Leweth! Hör einfach ein paar Tage auf, den ausgetretenen Pfad deiner immer gleichen Gedanken einzuschlagen. Halt ein, und du wirst sehen!«
    Diese Worte hatten Leweth zum Nachdenken gebracht. Er zögerte und sah fassungslos und benommen drein.
    Er hat begriffen, doch ihm fehlt der Mut, sich das einzugestehen.
    »Frag dich doch mal«, drängte Kellhus weiter, »warum du so verzweifelt bist.«
    »Ich bin nicht verzweifelt«, gab Leweth wie betäubt zurück.
    Er sieht den Weg, den ich ihm eröffnet habe, und begreift, wie vergeblich es ist, mir etwas vorzumachen – selbst, was seine Lebenslügen betrifft.
    »Warum lügst du noch immer?«
    »Weil – weil…«
    Trotz des prasselnden Feuers hörte Kellhus Leweths Herz so fieberhaft klopfen wie das eines Tiers in der Falle. Der Trapper schluchzte mehrmals heftig auf und wollte das Gesicht in den Händen verbergen, hielt dann aber inne, sah zu Kellhus auf und heulte wie ein Kind bei der Mutter. Das tut weh!, schrie es aus seiner Miene. So weh!
    »Ich weiß, dass es weh tut, Leweth. Qualen wird man nur durch größere Qualen los.« Wie kindlich er ist…
    »Was soll ich tun?«, schluchzte der Trapper. »Kellhus… Bitte, sag es mir!«
    Seit dreißig Jahren, Vater, kennst du die Welt außerhalb unserer Klostermauern. Welche Macht musst du inzwischen über Männer wie ihn haben!
    Und erwärmt von Feuer und Mitgefühl sagte Kellhus: »Niemand ist eine Insel, Leweth. Wem die Liebste gestorben ist, der muss lernen, aufs Neue zu lieben.«
     
     
    Nach einiger Zeit war das
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