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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall
Autoren: R. Scott Bakker
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Feuer heruntergebrannt. Die beiden saßen schweigend da und hörten zu, wie ein weiterer Sturm mit immer lauterem Heulen heraufzog. Es klang, als würden riesige Decken gegen die Wände der Hütte schlagen. Der Wald ächzte unter der drückenden Last des heranrollenden Blizzards.
    »Weinen verschmiert das Gesicht«, unterbrach Leweth die Stille mit einem alten Sprichwort, »aber es reinigt das Herz.«
    Kellhus antwortete mit einem Lächeln, doch in seiner Zustimmung lag Ratlosigkeit. Warum – so hatten die alten Dunyain gefragt – sollte man die Leidenschaften auf Worte beschränken, da sie sich doch zuerst im Gesicht zeigen? Er trug Hunderte von Mienen mit sich herum und konnte sie mit der gleichen Leichtigkeit aufsetzen, mit der er seine Gedanken in Worte fasste. Unter seinem strahlenden Lächeln und seinem mitfühlenden Lachen war ein kalter Beobachter verborgen.
    »Und doch traust du dieser Weisheit nicht«, meinte Kellhus.
    Leweth zuckte die Achseln. »Warum, Kellhus? Warum haben die Götter dich zu mir geschickt?«
    Für Leweth – das war Kellhus klar – steckte alles voller Götter, Geister und Dämonen, die die Welt verschwörerisch heimsuchten und überall Omen und Zeichen hinterließen, die von ihren unberechenbaren Launen zeugten. Ihre Absichten umstellten alles menschliche Streben wie ein zweiter Horizont – oft verhüllt, doch stets grausam und tödlich.
    Für Leweth war es kein Zufall, Kellhus unter einer Schneewehe gefunden zu haben.
    »Du willst wissen, warum ich gekommen bin?«
    »Genau.«
    Bisher hatte Kellhus stets vermieden, von seiner Mission zu sprechen, und Leweth, den es sehr verängstigte, dass sein Gast sich so schnell erholt und seine Sprache so mühelos erlernt hatte, hatte sich nicht zu fragen getraut. Inzwischen konnte Kellhus den Trapper jedoch recht genau einschätzen.
    »Ich bin auf der Suche nach meinem Vater Moënghus«, sagte er. »Anasûrimbor Moënghus.«
    »Hat er sich verirrt?«, fragte Leweth und war ungeheuer erfreut, ins Vertrauen gezogen zu werden.
    »Nein. Er hat meine Leute vor langer Zeit verlassen. Ich war damals noch ein Kind.«
    »Warum suchst du ihn dann?«
    »Weil er nach mir geschickt hat. Er hat mich gebeten, zu ihm zu reisen.«
    Leweth nickte, als müssten alle Söhne irgendwann zum Vater zurückkehren. »Wo ist er?«
    Kellhus hielt einen Moment inne. Es schien, als musterte er Leweth, tatsächlich aber hatte er einen Punkt knapp vor ihm ins Visier genommen. Wie ein Frierender sich einrollt, um sich möglichst klein zu machen und die Kälte auszusperren, richtete Kellhus all seine Sinne nach innen, wurde ganz Geist und ließ sich von der Außenwelt nicht unter Druck setzen. Seine vielen hundert Mienen waren sorgsam verwahrt, alle Variablen berechnet und ihre Wirkungen extrapoliert, und die Unzahl möglicher Folgen, die sich aus einer ehrlichen Antwort auf Leweths Frage ergeben mochten, gingen ihm durch den Sinn. Er war in Wahrscheinlichkeitstrance gefallen.
    Dann stand er auf und blinzelte ins Feuer. Wie auf so viele Fragen, die mit seiner Mission zusammenhingen, konnte er auch auf diese keine berechenbare Antwort geben.
    »In Shimeh«, sagte Kellhus schließlich. »Das ist eine Stadt tief im Süden.«
    »Er hat aus Shimeh nach dir geschickt? Aber wie ist das möglich?«
    Kellhus setzte eine leicht erstaunte Miene auf, die seiner wahren Empfindung recht ähnlich war. »Durch Träume. Er hat im Traum nach mir geschickt.«
    »Das ist Hexerei…«
    Wie immer, wenn Leweth dieses Wort ausstieß, lag darin eine seltsame Mischung aus ehrfürchtiger Scheu und blanker Angst. Der Trapper hatte ihm erzählt, es gebe Hexen, die sich die ungezähmten Kräfte zunutze zu machen wüssten, die im Boden, in Tieren und Bäumen schlummerten; und Priester gebe es, deren Gebete die andere Seite erreichten, auf dass die Götter in den Weltlauf eingriffen, um den Menschen eine Ruhepause zu verschaffen; und Hexenmeister schließlich, deren Behauptungen Gesetzeskraft entfalten und die Welt nicht etwa beschreiben, sondern deren Verhältnisse überhaupt erst stiften würden.
    Aberglaube. Egal, wo er ging und stand, und egal, worum es sich handelte – Leweth brachte Folgen und Voraussetzungen stets durcheinander, verwechselte dauernd Ursache und Wirkung. Die Menschen tauchten erst spät auf, er aber setzte sie an den Anfang und nannte sie »Götter« oder »Dämonen«. Worte kamen vielleicht noch später, er aber verpflanzte sie an den Ursprung und nannte sie »Heilige Schriften« oder
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