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Schattenbrut (German Edition)

Schattenbrut (German Edition)

Titel: Schattenbrut (German Edition)
Autoren: Susanne Seider
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Verfehlung.
    Judenpimmel Judenpimmel
    Sie presste die Fäuste auf ihre Augen und zählte langsam von einundzwanzig an aufwärts. Sie war Julia nichts schuldig. Sie war Tamy nichts schuldig. Sie sagte es sich immer wieder, aber sie wusste, dass sie sich damit selbst belog.

2.
     
    Den Rest des Vormittages hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren. Sie führte ein paar überfällige Telefonate und diktierte zwei Briefe in ihr Aufnahmegerät. Um zwölf Uhr verabschiedete sie sich von ihren Kollegen.
    Am Kiosk neben dem Kaufhaus kaufte sie ein Käsebrötchen und fuhr schließlich Richtung Norden in ihre Pfälzer Heimat. Obwohl keine Schulferien waren, floss der Verkehr nur zäh, und sie brauchte mehr als zwei Stunden, bevor sie den Ortseingang von Bad Bergzabern passierte. Links und rechts Weinberge, teils abgeerntet, teils noch voller schwerer Trauben, Plakate, die für Weinfeste warben und Messingbögen über den Straßen, von denen die künstlichen Weinranken hingen. Heimat. Nichts hatte sich verändert. Ihre Finger schienen am Lenkrad zu kleben.
    Der Friedhof lag beschaulich eingebettet in einer altmodischen Wohnsiedlung auf einem Hügel. Die Parkgelegenheiten, die sich zwischen der Kapelle und den Grabflächen reihten, waren bis auf den letzten Platz belegt. Auch die Straße war von parkenden Autos gesäumt.
    Sie erinnerte sich an Tamys Befürchtung, dass niemand da sein würde, und fuhr wütend vor einen kleinen Supermarkt gegenüber. Nur für Kunden, mahnte ein Schild. Wind schlug ihr entgegen, als sie die Tür öffnete. Sie fragte sich, ob es unhöflich war, auf einer Beerdigung einen hellgrauen Mantel zu tragen. Nach kurzem Zögern ließ sie ihn im Wagen liegen und hoffte, dass ihr marineblaues Kostüm, das sie für den entfallenen Gerichtstermin gewählt hatte, dunkel genug war.
    Die Kapelle war ein einfallsloses, L-förmiges Gebäude, doch zumindest schien sie geheizt. In dem kleinen Vorraum lag ein aufgeschlagenes Kondolenzbuch. Billy zögerte kurz und ging dann in den Hauptraum, der bis auf die letzte Stuhlreihe besetzt war. Vorne war ein Podest, auf dem der Pfarrer bei einem dunkelbraunen, mit gelben Blumen geschmückten Sarg stand, hinter ihm an der Wand hing ein hohes Kreuz.
    Billy suchte sich eine Lücke an der weiß getünchten Wand, an der sich weitere Menschen reihten, und stellte sich neben eine ältere Dame, die mit ihrem weißen Hut noch unpassender angezogen war als sie selbst. Der Pfarrer sprach mit unbeteiligter Mine. Unbehaglich trat Billy von einem Fuß auf den anderen, verschränkte ihre Arme vor der Brust und ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen. Alte Menschen. Fast überall saßen alte Menschen. Sie erinnerte sich, dass Julias Eltern aktiv in der Gemeindepolitik und im Musikverein gewesen waren. Scheinbar hatte Tamy doch recht gehabt, und die zahlreichen Besucher erwiesen eher ihnen als der Verstorbenen selbst die Ehre. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine hektische Bewegung wahr und folgte ihr. Tamy saß ungefähr in der Mitte und winkte ihr aufgeregt zu. Das Erste, was Billy auffiel: Tamy war nicht fett. Tamy hatte früher eine füllige, schwammige Statur gehabt, die geradezu ideal dafür war, um irgendwann auseinanderzugehen wie ein Hefeteig. Doch soweit es Billy von hier aus beurteilen konnte, sah Tamy aus wie immer. Dasselbe weiße Gesicht, die gleichen schlammbraunen Haare, die sie wie früher zu einem einfallslosen Pferdeschwanz gebunden hatte. Billy hob flüchtig die Hand zu einem Gruß und wandte ihren Blick nach vorne zu dem Pfarrer, einem schlaksigen Typen mit randloser Brille. Sie hörte ihn sprechen, doch sie verstand kein Wort von dem, was er sagte. Der Sarg schien zu leuchten. Lag darin wirklich Julia? Wurde ihr Gesicht durch den Unfall so zugerichtet, dass man den Deckel schließen musste? Billys Luftröhre zog sich zusammen. Sie steckte die Hände in die Taschen des Blazers. Keine elegante Haltung. Sie nahm sie wieder heraus und ließ sie nach unten hängen. Sie fühlten sich schwer an. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie war nicht hier, um Eindruck zu schinden.
    Der schlaksige Kerl auf dem Podest stimmte ein Gebet an, und die Menge senkte ihre Köpfe. Billy tat es ihnen gleich, ohne den Worten des Pfarrers zu folgen.
    Nach dem Gebet erklangen die donnernden Klänge einer Orgel. Die Menschen erhoben sich. Vier Männer sprangen auf das Podium und wuchteten den Sarg hoch. Mit steifen Bewegungen trugen sie ihn hinunter, hinaus
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