Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume
Autoren: Karin Slaughter
Vom Netzwerk:
es gedauert?», fragte Jeffrey und kam
    noch einen Schritt näher. Er wusste von einem Fall im letz‐
    ten Jahr, dass einen Menschen zu erwürgen nicht so leicht
    war, wie man sich das vorstellte. Vor allem wenn das Opfer
    sich mit Händen und Füßen wehrt, wie Julia es getan ha‐
    ben musste. «Wie lange hat es gedauert, bis sie das Be‐
    wusstsein verlor?»
    «Ich weiß nicht. Nicht lange.»
    «Warum haben Sie sie in die Höhle gebracht?»
    «Ich habe nicht darüber nachgedacht», rechtfertigte
    Hoss sich, doch Jeffrey sah das Schuldgefühl in seinen
    Augen.
    «Jeder wusste, dass es unsere Höhle war», sagte Jeffrey.
    «Wenn sie je gefunden worden wäre, hätten alle Leute
    glauben müssen, dass ich oder Robert es waren. Oder wir
    beide zusammen.»
    «Das habe ich nicht –»
    «Sie hatte behauptet, wir hätten sie vergewaltigt», un‐
    terbrach Jeffrey. «Kaum ein Jahr davor. Es hätte alles
    gepasst, nicht wahr? Wir wollten uns dafür rächen, dass
    sie gepetzt hatte.»

    455
    «Warte», sagte Hoss. Endlich sah er ihm in die Augen.
    Es fiel ihm schwer, das war offensichtlich. «Du glaubst, ich wollte, dass der Verdacht auf dich und Robert fällt?»
    Ohne zu zögern antwortete Jeffrey: «Ja.»
    Endlich verlor Hoss die Beherrschung. «Ich habe dir
    doch gesagt, es war ein Unfall!»
    «Erzählen Sie das der ganzen Stadt», gab Jeffrey zurück,
    und Hoss wurde bleich. «Sagen Sie das Deacon White und
    Thelma auf der Bank und Reggie Ray, wenn er mit Jessie
    zurückkommt.»
    Panik flackerte in den Augen des alten Mannes auf.
    «Das würdest du nicht tun.»
    «Nein?», fragte Jeffrey. «Ich weiß nicht, wie Sie das
    handhaben, aber ich trage meine Marke nicht nur, um im
    Diner ein kostenloses Frühstück zu bekommen.»
    «Ich hab dir beigebracht, die Marke zu ehren.»
    «Sie haben mir überhaupt nichts beigebracht, Sir.»
    Hoss streckte Jeffrey den Finger ins Gesicht. «Wenn ich
    nicht gewesen wäre, säßest du längst im Knast und wür‐
    dest mit deinem Daddy Fußböden schrubben, Junge! »
    «Wo ist der Unterschied», gab Jeffrey zurück. «Ich stehe
    auch hier mit einem Mörder in einem Raum.»
    «Jemand musste dich beschützen», sagte Hoss mit zit‐
    ternder Stimme. «Das war es, was ich getan habe. Ich hab mich um dich und deinen schwulen Freund gekümmert.»
    Jeffrey zuckte bei dem Wort zusammen, und das ent‐
    ging Hoss nicht.
    «Genau», sagte Hoss. «Wie würde es dir gefallen, wenn
    ich rumerzähle, dass du und Robert mehr wart als Freunde ?»
    Jeffrey lachte schnaubend.
    «Wer weiß», fuhr Hoss fort, «vielleicht stimmt es.»
    «Natürlich.»

    456
    «Zwei warme Brüder», höhnte Hoss, doch er hörte sich
    verzweifelt an. «Willst du, dass es die ganze Stadt erfährt?
    Vielleicht sollte man auch deinem Daddy im Knast Be‐
    scheid sagen.»
    «Sie können es meinem Daddy bald persönlich übermit‐
    teln, Sie mieser alter Drecksack.»
    «Pass auf, was du sagst.»
    «Oder was?»
    «Ich hab dich beschützt!», schrie Hoss. «Glaubst du,
    dein Vater hätte das für dich getan? Glaubst du, der Bastard hätte dir geholfen?»
    Jeffrey schlug mit den Fäusten auf den Tisch. «Ich
    wollte Ihre Hilfe nicht!»
    «Du hattest sie aber bitter nötig!», schrie Hoss zu‐
    rück. Blut tropfte aus seiner Nase, doch er schrie, bis
    sein Gesicht zornrot war. «Ich hab dich großgezogen,
    Junge! Ich hab dich zu dem Mann gemacht, der du heute
    bist!»
    Jeffrey zeigte mit dem Daumen auf seine Brust. «Ich
    habe mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin. Und
    Sie haben es nicht verhindern können.» Es widerte ihn an, so nah vor Hoss zu stehen. «Ich habe Sie für einen Gott gehalten. Sie waren genau so, wie ich werden wollte.»
    Hoss' Lippen zitterten, er schien Jeffreys Worte als
    Kompliment auffassen zu wollen.
    Jeffrey drückte sich klarer aus: «Sie haben sich an einem Kind vergangen. Sie haben einem Kind die Mutter genommen.»
    «Das habe ich –»
    «Sie kotzen mich an», sagte Jeffrey und ging zur Tür.
    Hoss stützte sich mit der Hand auf den Tisch, als hätte er keine Kraft mehr. «Geh nicht so, Slick. Bitte.» Er klang 457
    verzweifelt. «Was wirst du sagen? Was wirst du den Leu‐
    ten sagen?»
    «Die Wahrheit», sagte Jeffrey kühl und spürte, wie
    seine Ruhe zurückkehrte. Was er hier vor sich hatte, war nicht mehr sein Mentor, sein Ersatzvater, sondern ein Verbrecher, ein verlogener alter Mann, der die Menschen zer‐
    störte, die er hätte schützen sollen.
    «Bitte», flehte Hoss. «Das kannst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher