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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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wäre sie es gewohnt, in ihrem Viertel als Königin zu gelten. Auf jeden Fall wurden mir in ihrer Gegenwart nur allzu deutlich meine schäbige Jacke, mein vor Nässe klebendes Haar und meine durchweichten Schuhe bewusst. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich besser einen Hut aufgesetzt hätte.
    »Alan Barnes«, stellte ich mich nach kurzem Schweigen vor. »Der Onkel von Christopher und Susan«, fügte ich hinzu. Wann hatte ich die Kinder das letzte Mal bei ihrem vollen Namen genannt? Doch genau das war die Wirkung, die die Frau auf mich hatte, obwohl sie sicher keine Expertin in Sachen Mode war. Sie trug eine Cordhose, einen einfachen dunkelblauen Pullover mit V-Ausschnitt mit einer hellen Bluse darunter und auf Hochglanz polierte Arbeitsschuhe. Die eher maskuline Kleidung stand ihr gut und passte zu ihrer hochgewachsenen Erscheinung. Ihre schlichte Garderobe hatte zwar nichts mit modischem Schnickschnack zu tun, stand jedoch für echte Qualität. Der Pullover sah so weich aus, dass ich ihn am liebsten mit den Fingern gestreichelt hätte; bestimmt handelte es sich um Kaschmir. Vermutlich hatte sie ihre Kleidung irgendwo in Piccadilly gekauft, und zwar in den dreißiger Jahren.
    Sie öffnete die Tür ein Stück weiter, trat einen Schritt zurück und erlaubte mir einzutreten. Sie duftete nach Nelkenseife. Erst nach einiger Zeit fiel mir auf, dass ich diesem Duft lange vor dem Krieg zum letzten Mal begegnet war. Jenseits der Eingangstür befand sich eine Art Windfang, wo die Kinder ihre Gummistiefel abgestellt hatten und ein verblichener schwarzer Regenschirm tropfend an der Wand lehnte. Auf der anderen Seite war eine Garderobe aus Holz angebracht, an der eine Tweedjacke mit ledernen Ärmelflicken hing. Daneben stand ein Messingeimer für Spazierstöcke. Uns gegenüber gab es eine weitere Tür mit bunten Glaseinsätzen, die offen stand und in eine quadratische Eingangshalle führte.
    Die Kinder waren nicht zu sehen; wahrscheinlich waren sie zu schüchtern. Immerhin hatten sie mich lange nicht gesehen, und ich machte in diesen Tagen nicht gerade viel her. Als ich mich dem Fenster näherte und sie mich besser sehen konnten, hatten sie es vielleicht mit der Angst zu tun bekommen. Ich stand in der Eingangshalle und merkte, wie sich auf Miss Marlyns poliertem Holzfußboden Pfützen neben meinen Schuhen bildeten. Ich erwartete fast, dass ein Lakai mit einem Aufnehmer erscheinen und mir bedeuten würde, die Schweinerei aufzuwischen, doch Miss Marlyn blieb bei ihrem strahlenden Lächeln und schob mir eine einfache Fußmatte hin, auf die ich mich stellen konnte. Vermutlich hielt sie das Stück Teppich für genau solche Situationen in Reichweite bereit.
    Ich konnte den Reichtum, der hinter dieser Eingangshalle lag, wie etwas Greifbares spüren. Vielleicht lag es an der Wärme, die uns einhüllte und die sich so ganz anders anfühlte als die kleinen, spitzen Flammen des Kohlefeuers in unserem Wohnzimmer in Peckham. Aber vielleicht lag es auch an dem Duft nach gutem Essen, nach Mahlzeiten, die aus Fleisch und Gemüse oder Toast, Schinken, Ei und Kaffee bestanden – ich konnte tatsächlich Kaffee rie chen! –, den das polierte Holzpaneel und die weiß und golden gestreiften Tapeten auszuatmen schienen. Alles war so sauber und hell, als wäre gerade renoviert worden. Möglicherweise spielt mir meine Fantasie hier auch einen Streich, erinnert mich an Details, die ich niemals wirklich gesehen habe, oder lässt mich zu viel in diese ersten Minuten in der Eingangshalle von High Corner hineininterpretieren. Jedenfalls weiß ich genau, dass ich keinen Neid über den allgegenwärtigen Wohlstand verspürte, sondern eher erleichtert war, dass die Kinder es so gut angetroffen hatten. Wir hatten schreckliche Geschichten über Kinder gehört, die in Dörfer verschickt worden waren, wo es weder Strom noch fließendes Wasser gab und wo die Toilette aus einem Eimer in einem Verschlag hinten im Garten bestand. Doch Oxford war mindestens so zivilisiert wie London, und ich war sicher, dass die Kinder nicht frieren mussten und gut zu essen bekamen, auch wenn sie zunächst Heimweh nach Peckham hatten. In einem solchen Haus konnte man einfach nicht lang unglücklich sein.
    Kein Produkt meiner Fantasie ist die Tatsache, dass Miss Marlyn mich ansah, als amüsiere sie sich über mein verkniffenes Gesicht und den tropfenden Mantel, und dass sie dann das Licht anknipste.
    »So ist es besser«, sagte sie. »Finden Sie nicht auch, Mr Barnes?«
    Es war
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