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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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immer an Zeit fehlte, alles vernünftig zu reinigen. Wahrscheinlich war Sauberkeit das Letzte, woran man dachte, wenn es um das schiere Überleben ging. Vermutlich wäre mir diese Graufärbung gar nicht aufgefallen, wenn ich die vergangenen vier Jahre in England verbracht hätte.
    Nach einer halben Stunde wurde ich unruhig. Abgeschlossene Räume bereiteten mir Probleme, und das Abteil war viel zu voll mit all den Körpern fremder Menschen. Gern hätte ich ein Fenster geöffnet, doch mir war klar, dass ich damit den Unmut der anderen Passagiere auf mich gezogen hätte. Ich versuchte die vorbeihuschende Landschaft zu betrachten, doch Regen und Wind ließen alles verschwommen und unwirklich erscheinen. Hügel und Weiden, Hecken und Häuser verschwanden und tauchten wieder auf, bis ich schließlich darauf verzichtete, einen Sinn in dem zu finden, was ich sah. Vielleicht bin ich eingenickt, denn die Landschaft verwandelte sich in einen Albtraum, in dem nichts so war, wie es schien, und wo hinter jedem Busch vom Nebel verborgen der Feind lauern konnte.
    Als wir schließlich in Oxford ankamen, nahm ich meinen Rucksack aus dem Gepäcknetz, half der Frau in dem dünnen Mantel beim Aussteigen und drängte mich aus dem Bahnhof. Es regnete in Strömen. Himmel, Luft und alle Gebäude waren in Grau gehüllt. Von den kahlen Bäumen tropfte es. Schlammiges Wasser gurgelte in die Abflüsse. Ich schulterte meinen Rucksack, warf einen Blick in die Wegbeschreibung nach Headington und machte mich in Richtung Nordosten auf den Weg durch die Stadt.
    Ein Provinznest, dachte ich. Von den viel gepriesenen Colleges war nicht viel zu sehen – höchstens ab und zu ein Torbogen und eine solide Eichentür, natürlich fest verschlossen, um Leuten wie mir den Zutritt zu verwehren. Ich überquerte eine Brücke über eine geflutete Wiese, hörte das traurige Quaken von Enten und folgte einer Straße, die in die Außenbezirke der Stadt führte. Natürlich hätte ich auch den Bus nehmen können, doch ich war lange genug in diesem Eisenbahnabteil eingeschlossen gewesen. Jetzt brauchte ich frische Luft, auch wenn sie kalt und feucht war. Es roch nach Nässe und faulendem Kohl: Januargeruch auf dem Land. London roch nach dem Rauch von Kohlefeuern, austretendem Gas und geborstenen Abwasserleitungen.
    Über die Hecken hinweg betrachtete ich die Backsteinhäuser der Vorstadt. All diese respektablen Haushalte hatten ihre gepflegten Rasenflächen und ordentlichen Blumenbeete umgegraben und anstelle von Astern und Rosen Kartoffeln, Möhren und Rosenkohl angepflanzt.
    Zwar hatten die Leute hier draußen sicher keine Kampfflugzeuge zu Gesicht bekommen, aber sie sahen deswegen keinen Deut glücklicher aus. Ihre säuerlichen Gesichter sprachen Bände. Unterwegs wurde ich von Armeelastwagen überholt, deren Ladung unter Tarnnetzen verborgen war. Später sah ich einen Lieferwagen, der Ware in einem der schicken Häuser ablieferte. Der Fahrer war alt und faltig und sah aus, als hätte er schon während des letzten Krieges das Autofahren gelernt. Dann kam ein Jeep vorbei. Man sah nicht mehr viele Amerikaner, seit sie in die Normandie abgerückt waren, doch angeblich gab es mehrere Flugplätze in der Grafschaft; vermutlich waren die Männer von dort gekommen. Abgesehen von dem Lieferwagen fuhren alle Autos schnell. Die blöden Amerikaner wollten wahrscheinlich die einheimischen Mädchen beeindrucken, und die Engländer hielten sich alle für kleine Malcolm Campbells. Ein Motorrad brauste mit mindestens hundert Sachen an mir vorbei, und zwar so nah, dass das in den Gully fließende Wasser hoch aufspritzte und mich von oben bis unten besudelte. Von wegen Meldefahrer! Wahrscheinlich war er auf dem Weg nach Hause zum Essen.
    Der Wind blies mir scharf ins Gesicht. Ich glaube, es graupelte ein wenig, doch vielleicht spielt mir auch da mein Erinnerungsvermögen einen Streich. Auf jeden Fall wäre mir Schnee willkommener gewesen. Wenigstens hätte die Sonne herauskommen und uns etwas aufheitern können, anstatt sich hinter einer dichten grauen Wolkendecke zu verbergen. Schon mittags war abzusehen, dass es nicht sehr lang hell bleiben würde. Man musste damit rechnen, dass spätestens gegen drei Uhr der düstere, trübe Tag in Dunkelheit hinüberdämmerte.
    Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass mein Ausflug nicht meinem eigenen Nutzen diente. Ich war gekommen, um Harrys Kinder zu besuchen und ihnen gute Neuigkeiten von zu Hause zu bringen, die allerdings samt und sonders
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