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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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dem er bald werden würde; zumindest dachte ich das damals. Mir scheint, dass Kinder im Krieg schneller heranwachsen. Als sorgloser kleiner Kerl in Susies Alter war er jedenfalls einfacher gewesen, früher, als wir ihm an Sonntagnachmittagen mit Harry im Park das Fußballspielen beibrachten.
    Den kleinen Imbiss, den Miss Marlyn mir gab, hatte ich bitter nötig. Ich war den ganzen, meist bergauf führenden Weg vom Bahnhof bis zu ihrem Haus in der Armitage Road in Headington gelaufen. Die Anfahrt von Paddington hatte über drei Stunden gedauert, und die Eisenbahnwaggons waren nicht geheizt gewesen. Der Zug war mit kaum dreißig Stundenkilometern durch die zerstörten Londoner Vororte gezuckelt und erst schneller gefahren, als wir das traurig braune, freie Land erreichten. Manchmal blieb er aus unerfindlichen Gründen einfach stehen, und Kälte und Feuchtigkeit krochen immer tiefer in meine Knochen. Im Abteil roch es nach feuchtem Sergestoff, ungewaschenen Körpern und abgestandenem Zigarettenrauch. Die Leute sprachen stockend miteinander, als fühlten sie sich verpflichtet, ein wenig Freundlichkeit zu zeigen. Man konnte fast ihre Gedanken lesen: »Ich muss mir Mühe geben. Da draußen herrscht Krieg.« Sie sprachen vom letzten Luftangriff und tauschten ihre bevorzugten Bomben-Geschichten aus. Einer erzählte einen Witz aus der letzten Sendung von Tommy Hendley, und alle lachten.
    »Bald ist es geschafft«, sagte ein Mann in Luftwaffenblau.
    Ich weiß nicht, ob er die Bahnfahrt oder den Krieg meinte, denn beide schienen sich ihrem Ende zuzuneigen.
    Die meisten Passagiere waren in Uniform. Als ich einstieg, musterten sie mich, als fragten sie sich, warum ich keine Uniform trug, schauten dann aber schnell wieder weg. Ich nehme an, sie konnten mir am Gesicht ablesen, dass ich meinen Beitrag geleistet hatte und inzwischen als untauglich ausgemustert worden war.
    An einem der Haltepunkte stand eine Frau mit einem Rollwagen, der mit Pappschachteln beladen war. Picknick . Ein Schilling ,stand darauf. Nur mit Mühe brachte ich es fertig, mich nicht aus dem Fenster zu lehnen und eine Schachtel zu kaufen, wie es zwei andere Passagiere taten. In diesen Zügen ohne Speisewagen wusste man nie, wann man das nächste Mal etwas zu essen bekam. Doch ich hatte Chris und Susie versprochen, sie zum Abendessen auszuführen, und brauchte keine zwei Mahlzeiten.
    Eine junge Frau stieg ein und quetschte sich auf die gegenüberliegende Bank. Sie hatte ein weiches, ovales Gesicht und den wie eine Schnittverletzung wirkenden scharlachroten Lippenstift aufgelegt, den alle in diesem Jahr trugen. Diese Mädchen traten in Massen auf und sahen alle gleich aus, wenn sie Schlange standen, im Bus saßen oder mit dem Zug fuhren. Identisch und austauschbar. Die junge Frau in unserem Abteil trug einen dunkelblauen Mantel mit breiten Schultern aus einem schäbigen Stoff, der für die Kälte viel zu dünn aussah. Auf ihren Knien balancierte sie eine prall gefüllte Einkaufstasche. Wahrscheinlich war auch sie auf dem Weg, ihre Kinder zu besuchen, und brachte ihnen allerlei kleine Überraschungen mit, die sie sich vom Mund abgespart hatte und die ihr so wertvoll waren, dass sie sie keinen Moment aus den Augen lassen wollte. Auch ich hatte einen Rucksack dabei. Er lag oben im Gepäcknetz und enthielt Comics, Süßigkeiten und die Briefe, die Sheila am Abend zuvor mühevoll am Küchentisch geschrieben hatte. Am liebsten würde man ihnen die Sterne vom Himmel holen, um sie für die lange Trennung zu entschädigen, doch für den Moment musste eine Tasche voller Kleinigkeiten reichen. Ich lächelte die junge Frau an, um ihr zu zeigen, dass ich sie verstand, doch sie presste nur die Lippen zusammen und wandte den Kopf ab, als hätte ich eine obszöne Bemerkung gemacht.
    Also konzentrierte ich mich auf die männlichen Mitreisenden im Abteil, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen. Die Gesichter ringsum wirkten erschöpft, und die Müdigkeit färbte auf ihre graue Haut ab. Stammte ihr fahles Aussehen von dem Schmutz, der sich wie ein Film auf alles in der Paddington Station legte, oder war die Farbe dauerhafter? Ein wenig sah es so aus, als könne man sie nicht ganz abwaschen. Mir war diese allgemeine Graufärbung sofort bei meiner Rückkehr nach England aufgefallen – natürlich erst, als ich wieder so weit hergestellt war, dass ich überhaupt etwas bemerken konnte. Abgesehen von der Erschöpfung war sie wohl dem Mangel an Seife zuzuschreiben und dem Umstand, dass es
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