Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
Vom Netzwerk:
den Hügel hinunter und versuchten einen Ort zu finden, wo wir uns vor dem Regen schützen und ein wenig aufwärmen konnten. Ich begann ein Wanderlied zu singen, und sie fielen einigermaßen mutig mit ein. Geflissentlich übersah ich den flehenden Ausdruck in Chris’ Gesicht und führte mir vor Augen, wie gut es ihnen momentan ging. Hier waren sie in Sicherheit vor den täglichen Luftangriffen auf Süd-London .Es war ganz natürlich, dass sie ihre Mutter vermissten, doch der Krieg würde nicht mehr lange dauern, und dann würden sie wieder nach Hause zurückkehren. Besser, sie hatten ein wenig Heimweh, als dass wir ihr Leben aufs Spiel setzten. Kinder halten viel aus. Sie kommen schnell über Negatives hinweg. Nicht wahr?
    Zwar gab es hier keine Zerstörungen, wie ich sie von London her gewohnt war, doch alles sah schäbig und ungepflegt aus. In den letzten fünf Jahren war keines der Häuser gestrichen worden, und das fiel auf.
    Vermutlich erscheint einem ein Spaziergang mit einem unglücklichen Kind länger, als er in Wirklichkeit ist. Wir schleppten uns die nassen Straßen entlang und sangen die endlosen Strophen von »Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze«, bis wir schließlich die kleine Ansammlung von Geschäften und Büros fanden, wo nach Miss Marlyns Angaben auch das Restaurant sein sollte. Restaurant! Eine ganz schön aufgeblasene Bezeichnung, dachte ich, als wir endlich fanden, wonach wir suchten. Zwar hatte die Stadtverwaltung ihr Bestes getan und das Lokal innen in heiteren Gelb- und Grünschattierungen gestrichen, doch das war schon mindestens drei oder vier Jahre her. Inzwischen hatte Zigarettenrauch Wände und Decke bräunlich getönt, und auch die Bilder von lächelnden Mädchen unter Apfelbäumen oder mit unglaublich umfangreichen Korngarben im Arm wirkten unscharf und verblichen. Der Boden war mit Linoleum, das wie Holz aussehen sollte, ausgelegt. Unzählige Brandlöcher und heruntergefallene Essensreste verunzierten ihn.
    Eine arthritische Bedienung mit grauen Löckchen unter einer flotten weißen Haube notierte eifrig unsere Bestellung. Es bereitete ihr offenbar großes Vergnügen, uns mitzuteilen, dass die Würstchen aus waren, und so entschieden wir uns für Lammbraten mit Salzkartoffeln und Rosenkohl, gefolgt von Kuchen mit Vanillecreme. Das Lammfleisch grau mit gelben Fettstreifen, der Rosenkohl zu einer grünlichen Masse verkocht, und die Kartoffeln waren kalt und voller schwarzer Augen. Die Creme allerdings schmeckte wirklich gut – heiß und sehr süß. Die Konfitüre auf dem Kuchen sah schön rot aus, obwohl ich nicht hätte sagen können, ob es sich um Erdbeer- oder Himbeermarmelade handelte. Mir war gerüchteweise zu Ohren gekommen, dass man diese Konfitüre aus Zwiebeln oder Rüben herstellte und ein wenig Sägemehl hinzufügte, damit es nach echter Frucht aussah. Doch ich erinnere mich nur noch, dass der Kuchen herrlich süß war und die Creme genau die richtige Konsistenz ohne jeden Knubbel hatte.
    Während des Essens bemerkte ich, dass Chris mir erneut merkwürdige Blicke zuwarf. Ich stellte fest, dass ich wieder meiner alten Angewohnheit frönte, mit dem Finger über den Teller zu fahren und jeden Krümel aufzusammeln. Ich sehnte mich danach, auch die Schüssel auszulecken.
    »Das gehört Susie«, sagte er, und ich merkte, dass ich das letzte Stückchen Torte von ihrem Teller genommen hatte, während sie ihre Aufmerksamkeit dem Bruder zuwandte.
    »Verzeihung«, sagte ich demütig. Aber ich konnte es wohl kaum aus dem Mund nehmen und auf ihren Teller zurücklegen, nicht wahr? Damals im Lager schlangen wir, ohne zu kauen, und das ist eine Angewohnheit, die man nur schwer wieder loswird.
    »Verzeihung«, wiederholte ich, und dieses Mal war es, als ob ich mich für den ganzen idiotischen Krieg und das Schicksal entschuldigte, das diese beiden Kinder von ihrer Mutter fernhielt, obwohl diese nur noch wenige Monate zu leben hatte.
    »Lecker, nicht wahr?«, fügte ich hinzu.
    Beide nickten. Zum Essen ausgeführt zu werden war für sie ein ganz besonderes Ereignis, und ich glaube nicht, dass sie bemerkten, wie schlecht das Hauptgericht war. Man kann nicht erwarten, dass Kinder sich fünf Jahre zurückerinnert, als die Zeiten noch besser waren. Für sie war ihr Leben schon immer so verlaufen. Sie kannten es nicht anders.
    Nach dem Essen gingen wir in Headington ins Kino. Der Eintritt stellte sich als viel teurer heraus, als ich es gewohnt war, und dem unzufriedenen Murmeln
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher