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Schatten über Oxford

Titel: Schatten über Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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betreute – Gott allein weiß, welch miserabler Betreuer ich war – und zusehen musste, wie die Marksteine meiner Kindheit nach und nach zu Schutt und Asche zerbombt wurden, lernte ich, mich an meine wenigen Besitztümer zu klammern, an die kleine Ecke, die mir geblieben war und der ich mich zugehörig fühlte. Ich glaube, hier habe ich mich nicht besonders verständlich ausgedrückt. Doch dieser Bezirk, dieses furchtbar zugerichtete Haus in einer bewehrten Straße – es war mein! Ich hätte bis zum letzten Blutstropfen gekämpft, um es zu verteidigen. Ich weiß, dass es nichts Besonderes war – nur vier Zimmer und die Toilette im Garten –, aber für mich war es der wichtigste Platz auf der ganzen Welt. Im Lager hatte ich jede Nacht davon geträumt, und auf der Flucht sehnte ich mich jeden Tag danach. Mein Haus war es, das mir durch die Tage half, als ich nichts anderes zu essen hatte als ein paar rohe, von einem Feld gestohlene Kartoffeln oder als ich mir einmal voller Verzweiflung eine Papiertüte einverleibte, die ich an einem Zaun gefunden hatte. Du würdest sicher darüber lachen, Elinor, nicht wahr? Oh ja, deinen Vornamen kenne ich jetzt, und wenn ich mich mit dir unterhalte, nenne ich dich auch so, was ich im wirklichen Leben nie getan hätte.
    Unsere Häuser waren sehr unterschiedlich, doch unsere Gefühle für sie glichen sich aufs Haar. Haus, Familie, Tradition. Für uns beide hatten diese Begriffe eine große Bedeutung und brachten uns letztendlich dazu, das zu tun, was wir taten.
    Als ich dir zum ersten Mal gegenüberstand, schlug mir dein Stolz wie eine Hitzewelle aus einem Schmelzofen entgegen. Ich erkannte ihn an der Politur des Fußbodens, dem glänzenden Lack und an den Porträts an der Wand. Zunächst dachte ich, es ginge nur um Geld, doch das war es nicht allein. Natürlich brauchtest du Geld, um das Haus zu erhalten. Aber nie hättest du Untermieter genommen, wie ich es getan hätte, wenn es nötig gewesen wäre. Nein, du wolltest es so erhalten, wie es war, als dein Großvater es seiner nicht ehetauglichen Tochter vermachte. Es war ein Zeichen für die Welt, dass du wichtig warst und in der Gesellschaft etwas bedeutetest. Du wolltest, dass eines Tages auch dein Porträt dort oben hängen sollte, inmitten der Ratsherren und Bürgermeister mit ihren Goldketten und ihrem hochmütigen Gesichtsausdruck.
    Miss Marlyn .So hast du dich mir beim ersten Treffen vorgestellt und dabei geglaubt, dass eine Miss Marlyn für immer in diesem Haus wohnen würde. Aber vor allem wolltest du in einsamer Pracht dort leben und es bestimmt nicht mit jemandem teilen. Bis eines Tages Chris und Susie kamen. Sie stellten das kleinste der im Angebot befindlichen Übel dar. Handverlesen. Nette, saubere Kinder. Sie hatten weder Läuse noch Krätze und waren keine Bettnässer. Nun ja, jedenfalls ausgesprochen selten. Aber du hättest auch ins Bett gemacht, Elinor Marlyn, wenn du das durchgemacht hättest, was sie erlebt hatten, und wenn du gesehen hättest, wie sich ihre Mutter jeden Morgen die Lunge aus dem Leib hustete.
    Jetzt werde ich wütend. Lasse mich mitreißen. Aber das ist nicht gut. Nein, Elinor, du und ich, wir wissen, wie man sich kontrolliert. Wir werden nie handgreiflich. Wir planen und bereiten vor. Was wir planen? Die Rache, Elinor. Ein Mahl, das man am besten kalt genießt, wie man so schön sagt. Dein Verbrechen entstand aus Stolz, meines aus Rache. Vielleicht hätte ich sogar Verständnis für dich gehabt, hättest du nicht ausgerechnet diese beiden Kinder gewählt, um es auszuführen. Es war dein einziger Fehler. Was mich betrifft, wärst du sonst davongekommen. Ich bin davongekommen, bisher zumindest.
    Bereue ich meine Tat? Nein, nicht wirklich. Mein einziges Vergehen besteht meiner Ansicht nach darin, dich ausgerechnet in dem Augenblick zurechtgestutzt zu haben, als du dich auf dem Gipfel wähntest. Du warst der Meinung, noch viel vor dir zu haben und nach dem Krieg so leben zu können, wie du es vorbereitet hattest. Doch dem habe ich einen Riegel vorgeschoben. Du hast nicht mehr erlebt, wie der Rasen und die Büsche wieder Form annahmen, die Porträts wieder aufgehängt wurden und die Fenster wieder im Sonnenlicht blinkten. Du hast mir meinen Neffen und meine Nichte genommen, die mir alles bedeuteten. Ich habe dich dafür um deinen Triumph gebracht.
    Als ich dich besuchte, unterhielten wir uns zunächst eine Weile, du und ich, obwohl ich glaube, dass du vom ersten Augenblick an wusstest, was ich
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