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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose
Autoren: Nancy Kress
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Erzähler begann
mit tiefer, voller Stimme.
    »Seit mindestens achtzig Jahren wissen Neurologen,
daß eine gegebene Information nicht an einer bestimmten
Stelle des Gehirns gespeichert wird. Was wir wissen – und
wie wir es wissen –, ist viel komplexer. Die Informationen
in unserem Gehirn – ob es nun um die Erinnerung daran geht,
was wir heute morgen zum Frühstück gegessen haben, oder
darum, wie man Flugbahnen für die Mondfähre berechnet
– ist in einer Art pausenlos in Bewegung befindlichem Netz
neuraler Verbindungen gespeichert, das das gesamte Gehirn
erfaßt. Jede einzelne Stelle.«
    Tausende orangeroter Pünktchen begannen in dem
holographischen Gehirn zu pulsieren, das den Raum erfüllte.
Caroline sah orangerote Pünktchen in Augenhöhe an sich
vorbeisausen, über den Kopf und die Schultern des Mannes
flitzen, der vor ihr saß, und im Bogen vom Boden
hochschießen, um in der Decke zu verschwinden. Es war, als
ob man inmitten eines orangeroten Schneesturms säße.
Als ihr gerade schwindlig zu werden begann, verschwanden die
Pünktchen.
    »Aber das Konzept eines beweglichen Netzes liefert im
Grunde keine Erklärung für das
Erinnerungsvermögen«, fuhr die volle Stimme fort.
»Ein Hologramm wie jenes, das sie jetzt umgibt, ist
vielleicht ein besseres Modell. In einem Hologramm sind
sämtliche Informationen, die es erzeugen, überall auf
der gesamten Oberfläche gespeichert. Wenn ein Stück
eines Hologramms entfernt wird, kann das komplette Bild aus
diesem einen Stück rekonstruiert werden, obwohl es dann
vielleicht nicht mehr ganz so scharf und deutlich ist.«
    Das holographische Gehirn verschwand und wurde vom Foto einer
Ratte ersetzt – einer ganz weißen, sauberen,
keimfreien Ratte, wie Caroline bemerkte –, die durch ein
Labyrinth lief.
    »Deshalb können Wissenschaftler bis zu fünfzig
Prozent des Gehirns einer Ratte entfernen, und die Ratte
weiß trotzdem noch, wie sie durch bestimmte Labyrinthe
laufen muß. Das gilt völlig unabhängig davon,
welche fünfzig Prozent entfernt werden. Der Cortex eines
Gehirns – jedes Gehirns – funktioniert wie ein
Hologramm. Die Erinnerung wird nicht an einer einzelnen Stelle
gespeichert, sondern in neuralen Mustern, wie Bilder auf einer
holographischen Platte.
    Aber was hat das alles mit Ihnen zu tun, die Sie Ihr Gehirn dazu benutzt haben, sich für die operative
Erschließung früherer Leben zu entscheiden?«
    Die nicht bedrohlich wirkende Ratte verschwand. Auf dem
Bildschirm erschien eine unglaublich komplexe Computersimulation
von Hunderten winziger Gehirne, die sich zur soliden Form eines
einzigen, riesigen Gehirns gruppierten. Caroline dachte,
daß sie noch nie bessere Werbegraphiken gesehen hatte,
nicht einmal auf dem Broadway.
    »Vor fünfundzwanzig Jahren machte ein
Hirnforschungsteam unter der Leitung des brillanten
Nobelpreisträgers Robert Carl Untermeyer eine
verblüffende Entdeckung. Nicht nur, daß die Erinnerung
holographisch im einzelnen Gehirn gespeichert wird, die
Holographie ist auch ein gültiges Modell für ein
menschliches >Übergedächtnis<, das von allen menschlichen Gehirnen gebildet wird. Dieses
Übergedächtnis existiert unabhängig von jedem
einzelnen von uns. Manchmal wird es als
>Menschheitsgedächtnis< bezeichnet. Ebenso wie die
Erinnerung daran, was Sie heute morgen zum Frühstück
gegessen haben, unabhängig von irgendeinem bestimmten Ort in
Ihrem Gehirn existiert. Wenn man von diesem
Übergedächtnis etwas abtrennt – wie es geschieht,
wenn ein Mensch stirbt –, dann sind die holographisch
gespeicherten Informationen immer noch vorhanden. Immer noch komplett.«
    Auf dem Bildschirm leuchtete ein winziges Gehirn unter den
Tausenden plötzlich in hellem Orange auf und verschwand
dann. Die Gehirne drumherum projizierten ein Hologramm an die
freigewordene Stelle – und das Muster blieb das gleiche.
Die schokoladensüße Stimme fuhr fort.
    »Selbst wenn man fünfzig Prozent des menschlichen
Übergedächtnisses entfernt, weil für die Menschen
durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende hindurch die Zeit zum
Sterben kommt, kann das Ganze immer noch rekonstruiert
werden.«
    Die Hälfte des riesigen Gehirns verschwand; sofort
projizierte es sich selbst von neuem.
    »Es gibt noch eine weitere Parallele zwischen der
Holographie und dem menschlichen Übergedächtnis.
Für alle Hologramme gilt: Je kleiner das Teil, aus dem man
das Ganze zu rekonstruieren versucht,
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