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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose
Autoren: Nancy Kress
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nicht, als Individuen. Sie denken, daß der Planet
mit allem fertigwerden kann, oder sie glauben, einer warmen,
sentimentalen Muttergöttin zu folgen. Aber Sie haben recht,
Joe, was die Verschmutzung, die Zerstörung und die Gefahr
betrifft, die sie bis ans Ende aller Tage für das Leben
selbst darstellen. Satan nimmt viele abwegige Formen an,
besonders in der Endzeit.«
    »Der Mensch auch«, sagte Joe. »Danke
für den Drink. Tut mir leid, daß ich nicht daran
interessiert bin, der nächste Erlöser zu
sein.«
    »Das war Christus auch nicht immer«, gab Shahid
gelassen zurück. »Aber die Schlacht wird kommen. Sie
wird bald beginnen. Menschen, die sich operieren ließen und
glauben, sie hätten die Vergangenheit jetzt bewältigt,
Menschen wie Sie, werden allmählich die neue Form des Lebens
spüren, die stark genug werden wird, um uns alle vor der
Zerstörung des Planeten zu bewahren. Wie Robbie Brekke. Und
manche von ihnen werden dabei verlorengehen, wie das bei
Fußsoldaten immer der Fall ist. Aber nicht alle. Einige
werden die Transformation überleben, und die neue Kraft wird
hervortreten, geführt von jemandem, der nah an der Quelle,
dem Anfang, dem Beginn ist…«
    »Aber nicht von mir«, sagte Joe mit absoluter
Gewißheit. Er löste Shahids Finger von seinem
Handgelenk. »Kommst du mit, Caroline?«
    Caroline blickte zu Joe hinauf. Er streckte ihr die Hand hin,
und etwas regte sich in ihr. Es war keine Erinnerung. Aber wie
konnte sie Patrick alleinlassen? Sie warf Shahid einen hilflosen
Blick zu.
    Er lächelte.
    »Nur zu, Caroline«, sagte er leise und
vernünftig. »Mir geht es gut. Folgen Sie ihm
nach.«
    »Sind Sie sicher? Ich…«
    »Ich bin sicher.«
    Caroline beugte sich vor, um Shahid auf die Wange zu
küssen. Zu ihrer Überraschung erwiderte er den
Kuß. Es war ein Kuß, so leicht und trocken wie
Papier. »Ich rufe Sie morgen früh an«, sagte
sie. Er nickte.
    Sie legte ihre Hand in die von Joe.
     
    Shahid trank langsam aus. Als er ging, war es Mitternacht. Der
Broadway war ein hysterisches holographisches Chaos: ganze
Hausfassaden veränderten sich alle dreißig Sekunden,
Worte stießen in elektronischen Bögen durch die Luft
herab, Bars, HOLOTÄNZERINNEN! arabische Schmuck-Souks,
kolumbianische Schokolade und BRAINIES! NEU! BESSER! STARK!
    Er ging in Richtung Times Square. Die Renovierung war erst vor
einem Jahr abgeschlossen worden, und dann hatte man den Square
auf Dauer für den gesamten Verkehr geschlossen und nur
für Fußgänger zugänglich gemacht. Selbst zu
dieser Stunde war der riesige, hell erleuchtete Platz voller
Menschen, die herumschlenderten, aßen, lachten,
diskutierten und stahlen. Luftwagen flogen über ihn hinweg,
und unter ihnen flatterten die überlebenden Tauben. Auf
halbem Weg zu seinem Hotel, dem brandneuen Ricoh Plaza,
zerplatzte eine helle Lichtkugel etwas mehr als einen Meter vor
Shahid. Das weiße Licht verwandelte sich in eine
holographische Figur: eine Frau in Weiß, drei Meter hoch,
die auf den Knien lag, die Arme voller blaugrüner Rosen,
pinkfarbener Meeresdiatomeen und einer Spritze. Die
Auflösung war bemerkenswert. Das nach oben gewandte Gesicht
der Frau lächelte strahlend: die dankbare Werbung der
Gaisten für den Impfstoff gegen die Erinnerungsseuche,
dessen Produktion ihrer Ansicht nach ein weiteres Beispiel
für die Regulierung der Biosphäre war, die sich
zufällig der Vermittlung des menschlichen Verstands bedient
hatte. Zehn Sekunden später war das Holo wieder
verschwunden.
    Shahids Zimmer ging auf den Times Square hinaus. Er stellte
das Fenster auf maximale Undurchsichtigkeit ein und kniete neben
dem Bett nieder. Eine kindliche Angewohnheit, dann eine
Konzentrationshilfe, und, als er ein Teenager war, eine
hartnäckige Ablehnung weltlicher Bequemlichkeit im Rahmen
eines Ordens, der nach Loyolas Vorstellungen vor asketischer
Inbrunst brennen sollte. Im Seminar war ihm bewußt
geworden, daß sein Niederknien ein eher
äußerlicher als substantieller Trotz war, und er hatte
damit aufgehört.
    Das hatte ihn die substantielle Kraft von
Äußerlichkeiten gelehrt.
    Daß Joe McLaren die Rolle zurückwies, die ihm
bestimmt war, machte nichts, dachte Shahid. Schließlich war
es dem Menschen nicht gegeben, sich seine Rolle selbst zu
wählen. Joes Arroganz, die normale Arroganz des Atheisten,
war belanglos. Seine, Shahids, war es nicht.
    Er wollte an der bevorstehenden großen apokalyptischen
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