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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose
Autoren: Nancy Kress
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desto verschwommener das
Bild. Das gilt auch für das Übergedächtnis. Als
die menschliche Bevölkerung der Erde nur nach
Hunderttausenden zählte, hatte das Übergedächtnis
weniger Teile. Diese frühen Übergedächtnisse sind
verschwommen.
    Aber heute geht die Zahl der Menschen auf der Erde in die Milliarden.« Caroline fiel auf, daß er keine
bestimmte Zahl nannte. Entweder wollte das Institut nicht,
daß seine teure Präsentation zu schnell veraltete,
oder – was wahrscheinlicher war – damit sollte jeder
Hinweis auf die riesige Zahl von Todesopfern vermieden werden,
die AIDS in der Dritten Welt gefordert hatte, wo das Heilmittel
auch heute noch nicht immer verfügbar war.
    »Das Übergedächtnis ist scharf und deutlich
– und wartet nur darauf, daß sich Menschen Zugang zu
ihm verschaffen.
    Wie geschieht das? Und warum können Sie auf Ihren Anteil
daran durch die Jahrhunderte hindurch ohne die vorherige
operative Erschließung früherer Leben nicht
zugreifen?«
    Das riesige Übergehirn wurde vom Bildschirm gewischt und
von einer Montage jahrzehntealter Nachrichtenclips über
Robert Carl Untermeyers Labors ersetzt. Trotz der Unbeholfenheit
der antiquierten, zweidimensionalen Clips und des urigen
Aussehens der Labors kam etwas vom leidenschaftlichen Engagement
des Wissenschaftlers herüber. Caroline beugte sich vor.
    »Der Zugriff auf das Übergedächtnis war der
unschätzbare Beitrag von Untermeyers Team. Es entdeckte die
Existenz von >Inhibitoren< im limbischen System, einem tief
im Cortex liegenden Teil des Gehirns, die den Zugang zum
Übergedächtnis versperrten. Er fand auch heraus, wie
man diese Inhibitoren entfernt.«
    Die Labors aus dem zwanzigsten Jahrhundert wurden von
Aufnahmen des modernen Krankenhausflügels des Instituts
ersetzt.
    »Zur Entfernung von Inhibitoren, die den Zugriff auf
frühere Leben verhindern, ist eine heikle und
sorgfältige Kombination von computergesteuerter
Wellenmanipulation, Lenkung von Neurotransmitterströmen
mittels Arzneimitteln und modernen Operationstechniken
erforderlich. Aber warum? Warum sind diese Inhibitoren
überhaupt in unserem Gehirn?«
    Die kurzen Aufnahmen von Operationssälen verschwanden.
Caroline grinste. Lassen wir die Zuhörer lieber nicht
länger über die Tatsache nachdenken, daß ihre
Schädel von Laserstrahlen durchbohrt werden sollen. Halten
wir uns ans Theoretische.
    Vorzugsweise ans aufregende Theoretische. Ein riesiger
Cro-Magnon-Mensch knurrte sie vom Bildschirm an. Gerüche
erfüllten den Raum, das erste Mal, daß die
Geruchssynthesizer eingeschaltet worden waren: Dreck,
Schweiß und der heiße, staubige Geruch von
Tierfellen. Der Cro-Magnon-Mensch hatte einen Speer und einen
toten Luchs bei sich. Die Kamera fuhr zurück, und der
Cro-Magnon-Mensch stapfte auf eine ferne Höhle zu, wobei er
ein bißchen schnaubte.
    Caroline lächelte. Sie kannte Schauspieler: Wie sehr
mochte so eine Rolle den hier genervt haben? Kein Text.
    Der Kommentar wurde ein bißchen lockerer, gerade genug,
um eine Andeutung von professionellem Lachen zu übermitteln.
»Hier sehen Sie Og. Er wird vielleicht sechzehn Jahre lang
in seiner grimmigen Wildnis leben – wenn er schnell genug
ist. Nicht viel Zeit, um alles zu lernen, was man zum
Überleben in dieser Welt braucht. Aber wenn Og sich daran erinnern kann, was er in seinen früheren Leben
wußte, wird seine Lernkurve erheblich abgekürzt. Wenn
er seinen toten Luchs ansieht…«
    - Nahaufnahme des Kadavers, so keimfrei wie die Ratte
zuvor -
    »… und schon dessen Anblick in seinem Gehirn
präzise evoziert, was er tun muß, um ihn zu
häuten und zu konservieren, kann er Versuch und Irrtum
eliminieren. Er kann schneller lernen. Das
Übergedächtnis, so verschwommen es zu jener Zeit war,
als es nur wenige Gehirne gab, wird ihm einen evolutionären
Vorteil über den Luchs verschaffen. So daß er
ihn fressen kann – und nicht umgekehrt.«
    Og, der jetzt den Luchs verzehrte, löste sich zu elegant
gekleideten Männern und Frauen auf, die in einem teuren
Restaurant Hors d’Oeuvres aßen. Caroline erkannte
Fifth Garden und Maitre d’ Lingh Tuc, der im Hintergrund
herumstrich. Sie grinste; Tuc hatte viel für Publicity
übrig.
    »Aber für die Menschheit des einundzwanzigsten
Jahrhunderts – oder sogar schon für unsere Vorfahren
um sechshundert vor Christus – wäre ein derart
umfassender Zugriff auf so viele Erinnerungen nur verwirrend.
Wenn der
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