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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund
Autoren: Alfred Andersch
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direkt zur Halbinsel hinüberzurudern. Sie wendeten das Boot und schossen jetzt mit dem Wind dahin. Immer wieder staunte Gregor darüber, wie seicht das Haff war, sie fuhren über eine einzige Untiefe, stießen mit den Rudern häufig auf den Grund, an manchen Stellen konnte das Wasser höchstens einen halben Meter tief sein; wenn Gregor sich über den Rand des Kahns beugte, schien der Sandgrund zu ihm emporzuleuchten. Dann blickte er wieder auf Judith, die jetzt aufgerichtet, in einer sehr steifen Haltung auf ihrer Bank saß, so daß er sich wunderte, bis sie sagte: Ich bin ganz klamm vor Kälte.
    Gregor ließ die Ruder fahren und griff unter sich, nach dem Bündel. Sie sagte: Nein, lassen Sie doch! aber er hatte schon begonnen, die Riemen zu lösen und die Figur aus der Decke zu wickeln. Er stellte die Figur vorsichtig hinter sich, gegen die Mittelbank, so daß sie ihn beim Rudern nicht behindern konnte, dann stand er auf und legte Judith die Decke um die Schultern. Zum zweitenmal in dieser Nacht hatte er ihr Gesicht sehr nahe vor seinen Augen, es hatte nun alle Verwöhntheit verloren, es war ein frierendes, bleiches Nachtgesicht geworden, ein unsicheres Gesicht, in dem die Jugend sich wie ein im Traum gestörter Vogel regte, scheu und geisterhaft.
    Sie erreichten die Lotseninsel nach einer Viertelstunde. Sanft lief das Boot gegen den Sandstrand auf.
    Der Junge
    Er hatte während des letzten Teils der Fahrt unverwandt auf die Figur gestarrt, die an Gregors rudernden Rücken gelehnt stand. Seine Augen hatten sich die ganze Zeit nicht von dem hölzernen Wesen zu lösen vermocht.
    Das ist ‘ne Figur aus der Kirche, dachte der Junge, er war seit der Konfirmation nicht mehr in der Kirche gewesen, aber er wußte, daß die Figur aus der Kirche stammte, er konnte sich noch an sie erinnern, vom Kindergottesdienst her, und während der Konfirmation war er an ihr vorbeigegangen, als die Konfirmanden zum Abendmahl gingen, am Altar vorn. Darum hat also der Pfarrer heute mit Knudsen gesprochen, es dreht sich um die Figur, sie muß herausgeschmuggelt werden. Aber warum mußten Figuren aus Kirchen herausgeschmuggelt werden, das war doch zu komisch. Ich werde doch noch Knudsen fragen müssen, dachte der Junge, warum man die Figur von ‘nem Jungen, der nichts weiter tut als lesen, nachts heimlich über die See schaffen muß. Und was hatten der Mann und das Mädchen dabei zu tun? Kamen sie beide als Passagiere mit? Na egal, dachte er, die Figur kommt auf jeden Fall mit, und wenn sie mitkommt, dann komme auch ich mit. Wenn sie ‘raus kommt, dann komme ich auch ‘raus. Er schob das Beiboot so weit wie möglich am Strand ‘rauf und sicherte es mit der Vorleine an einem Pfahl.
    Knudsen - Gregor - Judith
    Gegen zwei Uhr legte Knudsen die ›Pauline‹ an einer Buhne auf der Seeseite der Lotseninsel fest. Er kannte die Steindämme genau; die Buhne, die sich auf der Höhe der Westseite des Wäldchens befand, reichte so weit ins Meer hinaus, daß er die breite, flach liegende Tjalk bis an ihre Spitze heranbringen konnte. Während er die ›Pauline‹ mit zwei Tauen unter Steinen festlegte - er vermied es, mit dem Anker zu arbeiten, um die Leute auf dem Leuchtturm nicht aufmerksam zu machen -, sah er das Motorboot der Zollpolizei aus der Haffmündung herauskommen und Kurs nach Nordnordwest nehmen. Knudsen wußte, daß sie die See auf einer Linie zwischen Fehmarn und dem Reriker Haff abpatrouillierten; jenseits dieser Linie bestand wenig Gefahr, er mußte möglichst schnurgerade nach Norden, auf die dänischen Inseln zu halten, auf Lolland und Falster, im Schutz des dänischen Hoheitsgebietes konnte er dann zur schwedischen Küste hinüber und unter dem Land bis Skillinge kommen. Mit einem Boot, wie die ›Pauline‹ es war, würde er am Nachmittag in Skillinge sein und am darauffolgenden Morgen in Rerik zurück… Aber er würde zwei Nächte und einen Tag weggewesen sein und er würde ohne Fische zurückkommen und alle würden sich wundern, - er mußte Glück haben, wenn die Sache nicht ins Gespräch kam. Es wäre leichter, den Götzen nur nach Falster hinüberzuschaffen, dachte Knudsen, aber aus irgendeinem Grunde wollte der Pfarrer ihn nach Schweden bringen lassen. Knudsen hatte keine Ahnung, wie sie ihn in Dänemark aufnehmen würden, wenn er mit so einer Figur dort ankam, wahrscheinlich, dachte er, werden sie mich für einen Kirchenräuber halten; es bleibt mir nichts anderes übrig, als sie dem Propst von Skillinge zu bringen, der
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