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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund
Autoren: Alfred Andersch
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einen Blick des Einvernehmens.
    Ich habe Sie gefragt, ob Sie für die Partei rüberfahren würden, sagte Helander. Geben Sie mir noch eine Antwort darauf!
    Scheißpartei, dachte Knudsen. Der Pfarrer sah etwas Merkwürdiges in Knudsens Augen: einen Ausdruck der Qual.
    Seit Jahren tue ich nichts mehr für die Partei, brach Knudsen aus. Das ist es doch! Es gibt sie gar nicht mehr, die Partei. Und da verlangen Sie, ich soll etwas für Ihre Kirche tun? Er hieb mit der Faust gegen die Wand des Steuerhauses. Gehen Sie weg, Herr Pfarrer! Lassen Sie mich allein!
    Das war es also. Helander begriff plötzlich Knudsens Weigerung. Seinen Haß gegen die Partei, weil sie versagt hatte. Sein schlechtes Gewissen, weil er nun die Partei haßte. Es ist so ähnlich wie mit mir und der Kirche, dachte er.
    Er wandte sich ohne einen Gruß um und ging weg. Knudsen sah ihm nach, wie er mühsam den Kai überquerte. Der Kai war noch immer leer, und der Pfarrer ging schwarz und allein und mühsam sein Verdun-Bein schleppend über das Pflaster, an den roten Giebelhäusern entlang und bog an der Nicolaigasse um die Ecke. Dann schlugen die Glocken vier. Herrgott, dachte Knudsen, ich komme zu spät.
    Der Junge
    Ich hab mein Zeug längst fertig an Bord, dachte der Junge, warum hat Knudsen mich fortgeschickt? Es gäbe noch ‘ne Menge zu tun, bis das Boot klar ist. Aber Erwachsene gaben ja nie Erklärungen ab, sie sagten nur »Komm um fünf!« oder »Geh nach Hause!« Er ging die Treene entlang und wunderte sich darüber, daß der Pfarrer mit Schiffer Knudsen gesprochen hatte, aber dann vergaß er es wieder: Erwachsene interessierten ihn nicht, nicht als Einzelpersonen. Höchstens so im allgemeinen. Ich werde anders sein als sie, dachte er, wenn ich einmal erwachsen bin. Es muß doch möglich sein, anders zu werden als Knudsen und alle die, die er kannte. Es konnte doch nicht immer so weitergehen, daß man nur noch ein paar Redensarten hatte, wenn man älter wurde, daß man auf keine Ideen mehr kam, wenn man älter wurde, daß man immer das gleiche Leben in kleinen roten Ziegelhäusern führte und ein wenig langweilige Küstenfischerei betrieb, wenn man älter wurde. Man mußte sich etwas Neues ausdenken, damit man nicht so wurde. Aber um es ausdenken zu können, mußte man erst einmal weg von ihnen.
    Judith
    Sie setzte sich an einen Tisch in der zu dieser Stunde leeren Gaststube und bestellte Tee und ein Wurstbrot. Dann blickte sie zum Fenster hinaus, auf den leeren Hafen. An der Kaimauer sah sie einen Geistlichen stehen, der sich mit einem Fischer unterhielt. Mit dem Fischer des einzigen Kutters, auf dem sich Leben regte. Der Wirt brachte den Tee und das belegte Brot. Judith zog den Baedeker aus ihrer Handtasche und tat so, als ob sie dann läse, während sie begann, das Brot zu essen. Übrigens war das eine ihrer Lieblingsgewohnheiten - beim Essen zu lesen. Zu Hause hatte Mama immer ein wenig geschimpft, wenn sie Judith fand: auf dem Bauch liegend, in ein Buch vertieft, die eine Hand den Kopf stützend, in der anderen ein Marmeladebrot. Heute konnte sie nicht lesen. Sie blickte nur auf die Seiten.
    Die Kirchen schließen um fünf, sagte der Wirt.
    So früh schon? fragte Judith.
    Um halb sechs ist es jetzt ja schon dunkel, erwiderte der Wirt.
    Ach ja, richtig, sagte Judith. Vielleicht werde ich sie mir erst morgen ansehen. Ich bin ziemlich müde. Ich werde nur noch ein bißchen am Hafen herumlaufen.
    Eine, die es mal nicht eilig hat, dachte der Wirt. Solche Mädchen hatten es meistens eilig, zu den Kirchen zu kommen. Die hier schien nicht so eifrig zu sein. Mal eine Ausnahme. Eine hübsche und ziemlich junge Ausnahme übrigens.
    Nichts zu sehen heute im Hafen, Fräulein, sagte er.
    Ja, warum ist der Hafen eigentlich so leer, fragte Judith. Nicht mal Fischerboote sind da.
    Sie sind alle draußen. Wir haben jetzt Dorschsaison. Heute nacht werden die ersten zurückkommen. Morgen mittag können Sie bei mir prima frischen Dorsch essen.
    Judith spürte seinen Blick. Ein scheußlicher Kerl, dachte sie, so fett und weiß. Ein fetter Dorsch.
    Herrlich, sagte sie. Ich esse Seefisch gern. Sie dachte: morgen mittag bin ich weg, wenn es von hier kein Schiff ins Ausland gibt.
    Kommen manchmal auch größere Schiffe nach Rerik? fragte sie. Sie versuchte, ihre Stimme so gleichgültig wie möglich zu machen.
    Nur noch selten, sagte der Wirt. Nur noch gelegentlich so kleine Pötte. Es wird nichts getan für Rerik, begann er zu räsonieren. Die Fahrrinne müßte
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