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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Frühporree oder Frühlauch; denn in diesem Fall »muß der weiße oder grünlich-weiße Teil mindestens ein Viertel der Gesamtlänge oder ein Drittel des umhüllten Teils ausmachen«.
    Das ist nicht die einzige Regel, die möglicherweise auf der Kippe steht. Auch andere bemerkenswerte Vorzeigebestimmungen, wie die Bananenverordnung und die Vermarktungsnorm für Äpfel, sind gefährdet. Was die Vorschriften für die Mindestgröße von Kondomen betrifft, deren »Länge nicht weniger als hundert Millimeter und die Weite nicht mehr als zwei Millimeter von dernominalen Weite abweichen« sollte, so hat die Kommission, vermutlich nach langem Ringen, ein Einsehen gezeigt. Die Länge von 16 Zentimetern jedenfalls ist nicht verpflichtend; sie wird nur dringend empfohlen. Der Kampf gegen den Rohmilchkäse und den Frankfurter Äpfelwein, Lebensmittel, die das Stirnrunzeln der Behörde verursacht haben, muß sogar als endgültig verloren gelten, weil sich die widerspenstigen Franzosen, ebenso wie die Hessen, in diesen Fällen zu lärmenden Protesten aufgerafft haben. Anzeichen dafür, daß der Behörde Zweifel an ihrer Allzuständigkeit gekommen wären, sind freilich nicht zu erkennen. Aus ihren kleinen Niederlagen irgendwelche weiterreichende Schlüsse zu ziehen liegt ihr fern. Die Produktion an weiteren Vorschriften blüht.
    Ein schönes Beispiel für ihren Eifer bietet die »Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates ( EG ) 244/2009 zur Durchführung der Richtlinie 2005/32/ EG im Hinblick auf die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von Haushaltslampen mit ungebündeltem Licht«. Sie schreibt allen Europäern auf vierzehn engbedruckten Seiten vor, wie sie ihre privaten Räume zu beleuchten haben. Es ist schwer zu sagen, was hier obwaltet. Ist es Gewissenhaftigkeit? Ist es Schikane? Dummheit? Willkür? Oder die leicht sadistisch angehauchte Wollust des Befehlens und Verbietens? Das weiß niemand genau, auch diejenigen nicht, die dafür verantwortlich sind.
    »Wer hat an der Uhr gedreht?
    Ist es wirklich schon so spät?«
    Auch das hat man in Brüssel getan. Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates 2000/84 sorgt dafür, daß ein paar hundert Millionen Leute zweimal im Jahr an sämtlichen Armband-, Taschen- und Wanduhren herumfingern müssen, was zur Folge hat, daß ihr Biorhythmus ein paar Wochen lang verrückt spielt. Zahlreiche Studien haben erwiesen, daß von dem Energiespareffekt, der dadurch erzielt werden sollte, keine Rede sein kann.
    Auch sollen von 2013 an dieselben Einwohner des Kontinents, die gezwungen werden, an ihren Uhren und Nachttischlampen herumzuschrauben, um den Anordnungen aus dem fernen Brüssel zu gehorchen, jedesmal eine dreiunddreißig- bis zweiundvierzigstellige Kontonummer angeben, auch wenn sie nicht nur im internationalen Zahlungsverkehr, sondern im eigenen Land eine Überweisung empfangen wollen. Vorgeschrieben wird damit zum einen die sogenannte BIC mit elf Stellen und dazu eine weitere, die den Namen IBAN trägt. Sie besteht aus zweiundzwanzig bis vierunddreißig Ziffern und Buchstaben. In Italien zum Beispiel weist sie 27 und in Malta 31 Stellen auf, so daß dort für 414 000 Malteser 3 100 000 000 000 000 000 000 000 000 000 verschiedene Kontonummern zur Verfügung stehen, die noch durch weitere 10 000 000 000 BIC -Nummern verfeinert und präzisiert werden sollen. Diese Pionierleistung der Behörde, gegen die sich bereits manche Proteste erhoben haben, trägt die Verordnungsnummer 924/2009.
    Unklar ist dagegen, an welchen Flughäfen in Europa die Nagelscheren, Gürtelschnallen, Parfümfläschchen, Schuhe und Korkenzieher der Passagiere als potentielle Mordwaffen eingestuft werden müssen. Jedenfalls fehlen in dieser Beziehung, wie jeder Reisende weiß, die exakten Euronormen. Die entsprechenden Ausführungsbestimmungen werden sicherlich nicht lange auf sich warten lassen.
    Bei ihrer unermüdlichen Einmischung in unser Alltagsleben bleibt nur ein einziges Feld unbeackert. Das ist die Kultur. Mit ihr hat die Union noch nie viel am Hut gehabt. Sie stört schon deshalb, weil sie schwer zu homogenisieren ist. Es ist nur folgerichtig, daß die Kommission dieses Ressort ihrem unbedarftesten Mitglied anvertraut hat. Ein Blick auf das Budget, das die Union dafür bereithält, genügt, um zu verstehen, woran das liegt. Dieser Etat beläuft sich auf 54 Millionen Euro und liegt damit im niedrigen Promillebereich; genauer gesagt macht er
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