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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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aus, wenn man anderen demoskopischen Auskünften glaubt. Danach sehen nur noch 49 % der Europäer die Mitgliedschaft ihres Landes positiv, und nur noch 42% der Bürger schenken den EU -Institutionen ihr Vertrauen.
    Das liegt nicht zuletzt an dem Sprachgebrauch, der dort herrscht.Selbst der Vertrag von Lissabon, ein Verfassungs-Ersatz, der als Rechtsgrundlage der Union dient, zeichnet sich dadurch aus, daß seine Lektüre auch den gutwilligsten europäischen Bürger vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellt. Er gleicht einem unpassierbaren Drahtverhau. Abschnitte wie der folgende können nur der Abschreckung dienen:
    »Im gesamten Vertrag werden die Worte ›Gemeinschaft‹ oder ›Europäische Gemeinschaft‹ ersetzt durch ›Union‹, die Worte ›Europäische Gemeinschaften‹ oder › EG ‹ oder gegebenenfalls ›Europäische Wirtschaftsgemeinschaft‹ durch ›Europäische Union‹, der Wortbestandteil ›Gemeinschafts‹- durch ›Unions‹- und das Adjektiv ›gemeinschaftlich‹ durch ›der Union‹, außer in Artikel 299 Absatz 6 Buchstabe c, wo der Artikel 311a Absatz 5 Buchstabe c wird. In Artikel 136 Absatz 1 betrifft die vorstehende Änderung nicht das Wort ›Gemeinschaftscharta‹.«
    Daß es selbst Verfassungsjuristen schwerfällt, diese Prosa zu verstehen, kann kein Zufall sein. Leider ist anzunehmen, daß dies ganz im Sinne ihrer Urheber ist. Als in Irland 2008 über den Vertrag abgestimmt werden sollte, meinte der Ire Charlie McCreevy, der das Land in der Kommission vertrat, von den 4,2 Millionen Einwohnern hätten kaum 250 das Werk gelesen, und nicht einmal 25 von ihnen hätten es verstanden. Der Ausgang des Referendums ist bekannt.
    Ein Vergleich mit dem Text der amerikanischen Verfassung zeigt, daß hier nicht nur mit der Sprache Schindluder getrieben wird. Schon der schiere Umfang des Dokuments spricht für sich. Es ist über 200 Seiten stark und wurde nur übertroffen von dem gescheiterten Verfassungsvertrag von 2004, einem Wälzer von 419 Seiten. »Dagegen unser Europa!« heißt es bei Gottfried Benn. »Viel Nonsens, Salbader: ›Die Wahrheit‹, Lebenswerk, 500 Seiten – so lang kann die Wahrheit doch gar nicht sein!«
    Andere Sprachregelungen überraschen durch ihre historische Taubheit. Die Exekutive der Union, die darüber hinaus in fast allen Bereichen das alleinige Initiativrecht für die Rechtsetzung besitzt und als »Hüterin der Verträge« die Einhaltung des Europarechts durch die Mitgliedstaaten überwacht, besteht nicht aus Ministern, sondern aus Kommissaren. Man darf bezweifeln, ob den Erfindern dieses Begriffs aufgefallen ist, welche Assoziationen sich in Europa mit ihm verbinden. Abgesehen davon, daß man darunter in manchen Ländern einen ermittelnden Polizisten versteht, handelt es sich um eine politisch schwer belastete Amtsbezeichnung. Volkskommissare gab es zwischen 1917 und 1946 in der Sowjetunion; politische Kommissare sorgten in der Roten Armee für die Einhaltung der Parteilinie; Reichskommissaren wurden in Deutschland von 1871 bis 1945 große Machtbefugnisse übertragen, und nach dem Überfall auf die Sowjetunion hielten von 1941 bis 1944 die Reichskommissariate Ostland und Ukraine das Heft in der Hand. Daß die Gründer der Union sich auf diese ebenso naheliegenden wie ominösen Erinnerungen nicht besonnen haben, spricht natürlich nicht gegen ihre wohlmeinenden Absichten; es zeugt nur von ihrer Geschichtsvergessenheit.
    Merkwürdige Töne schlagen auch Verlautbarungen der Behörde an, die sich, wie der folgende Text, durch ihren autoritären Duktus auszeichnen: »Die Durchsetzungsmaßnahmen direkt nach der Inkraftsetzung der Rechtsvorschriften sind entscheidend für deren Erfolg und für den Erfolg der zukünftigen Überwachung und Durchsetzung … Sobald die aktive Durchsetzung beginnt, wird … empfohlen, eine aufsehenerregende Strafverfolgung zu betreiben, um die abschreckende Wirkung zu verstärken.« Diese Drohungen stammen nicht, wie man vermuten könnte, aus der Kriegssonderstrafrechtsverordnung des Deutschen Reiches aus dem Jahr 1938 oder aus dem Arsenal der hingeschiedenen DDR , sondern aus einer ganz harmlosen Empfehlung des Rates der Europäischen Union, die sich im interinstitutionellen Dossier Nr. 2009/0088 findet und sich auf insgesamt 24 Seiten schlicht und einfach um rauchfreie Umgebungen bemüht zeigt. Die Kommission erklärt, daß sie sich gezwungen sieht, zu drakonischenMitteln zu greifen, da sich »freiwillige Regelungen auf nationaler
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