Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sand & Blut

Sand & Blut

Titel: Sand & Blut
Autoren: Xander Morus , Isabell Schmitt-Egner
Vom Netzwerk:
größer geworden.
    Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, woran das lag. Als ich es verstand, fragte ich mich sofort, wie sie so jemals wieder unterrichten wollte. Die Ratten hatten sich in ihren Haaren eingenistet und, um nicht zu ersticken, hingen sie ihr wie groteske Locken ins Gesicht. Ihre Krallen schabten unentwegt über ihre Augen und ihre Haut. Die Schwänze hatten sich mit ihren Haaren verknotet und ihre dicken Leiber schaukelten jetzt unkontrolliert über ihren Kopf. Der Rattenkopf der Medusa. In ihrer Panik versuchten sie, sich festzukrallen, rutschten aber in dem Blut, das aus etlichen Wunden tropfte, immer wieder aus. Tanja schien das nicht zu merken.
    Ich erkannte jetzt, warum Tanja so schwer war. An ihrem Rücken klebte der restliche Rattenkönig. Eine schwarze, klebrige Masse, die aus etlichen kleinen Körpern zu bestehen schien. Er hob und senkte sich, als würde er atmen. Dutzende fiepende Ratten huschten immer wieder über ihre Schultern und versuchten, sich vom den Knäuel zu lösen.
    Ich schüttelte mich und starrte Tanja und das Ungetüm auf ihrem Rücken nur an. Sie klammerte sich an das Netz und ich musste mich dagegen stemmen, um sie nicht zu verlieren. Als sie mich entdeckte, verzog sich die Wolke vor dem Mond und es war einen Moment taghell. Die Ratten, die an die Dunkelheit gewöhnt waren, schrien auf. Wie tausende Fühler versuchten sie, davon zu laufen.
    Tanja krümmte sich unter der Last und fixierte mich dann. Ich sah, dass sie sich vor sich selbst ekelte. Und wie in einem schlechten Film öffnete sie langsam den Mund und spuckte ein lebloses Fellknäuel aus. Sie schloss ihn aber nicht, sondern hob zu einem kehligen Geräusch an. Sie schüttelte sich, so weit es ihr möglich war. Der Klumpen an ihrem Rücken bebte. Dann schrie sie: »Das wirst du mir büßen!«
    Als ich ein kleiner Junge war, stahl ich einmal bei dem kleinen Tante-Emma-Laden, den es bei uns noch gab, ein sehr dickes Buch, das er aus irgendwelchen Gründen im Angebot hatte. Ich wollte es unbedingt haben. Es war ein Buch, das kein Zehnjähriger klauen würde. Aber ich wollte es. Ich weiß noch genau, dass es einen goldenen Einband hatte. Er glitzerte wie ein wertvoller Schatz in dem schmierigen Schaufenster. »Hundert spannende Kurzgeschichten in einem Band«. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass ich mir das Ding unter das T-Shirt schieben konnte. Es klappte ungefähr, bis »Hundert« nicht mehr zu sehen war. Dann packte mich die fette Pranke des Ladeninhabers und schüttelte mich so heftig, dass ich dachte, er würde mir den Arm ausreißen.
    »Dieser Junge wird entweder ein großer Verbrecher oder ein großer Schriftsteller!«, sagte er meiner Mutter ins Gesicht und hielt das Buch triumphierend in die Luft. Meiner Mutter war die Sache furchtbar peinlich. Sie kaufte mir das Buch. Es ist das einzige Buch, das ich besitze, das ich nie aufgeschlagen habe. Aus Scham las ich nie darin.
    In diesem Moment, als ich auf die brüllende Tanja starrte, begriff ich, wie recht der Mann damals gehabt hatte.
    Ich ließ das Netz los. Tanja rauschte wie losgelöster Gummiball zurück in die Grube. Ich weiß gar nicht, ob ich sie aufprallen hörte. Ich sah nur in die dunkle, stürmische Nacht und ging dann langsam davon. Diesmal kam ich nicht wieder.
     

 
    4. Ich denke einen langen Schlaf zu tun
    Der Sommer ging mit diesem Sturm und mit dem Herbst kam mein Doktortitel.
    Aber sie fand man nicht. Die Sandgrube wurde im September unpopulärer als eine Grippeinfektion. Das war immer so. Der Müll und der Dreck, der sich dort über den Sommer angesammelt hatte, wurden erst im Frühjahr beseitigt. Außerdem begann das neue Semester und das bedeutet für jeden immer viel Arbeit. Zumindest tut man so. Aber das ist ja auch Arbeit.
    Natürlich fragte man mich, wo Tanja sei. Und ich sagte, ich wüsste es nicht. Sie sei von einem Tag auf den anderen weg gewesen. So was kommt vor. Besonders, wenn man unter dem Druck steht, eine perfekte Doktorarbeit abzuliefern. Es hatte sich rumgesprochen, dass sie Ritalin genommen hatte. Sie hatte es in einer schwachen Minute einer Kollegin erzählt und das fiel ihr jetzt alles auf die Füße.
    Man vermutete, dass sie dem Druck nicht gewachsen war und sich eine Auszeit nahm. Ich gab meine Doktorarbeit termingerecht ab und, wie erwartet, war das Echo äußerst positiv. Summa Cum Laude und eine lobende Erwähnung in einigen Fachzeitschriften. Meine Ergebnisse konnten ein völlig neues Licht auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher